Brasilien: Ein Land der Zukunft
der beiden Nationen voneinander verschieden entwickelt; Portugal, als das historisch ältere Land, träumt zurück in eine große, wohl nie mehr zu erneuernde Vergangenheit, Brasiliens Blick ist in die Zukunft gerichtet. Das Mutterland hat seine Möglichkeiten – in großartigster Weise – schon einmal erschöpft, das neue die seinen noch nicht völlig erreicht. Es ist ein Unterschied nicht so sehr der volksmäßigen Struktur, als eine Verschiedenheit der Generation. Beide Völker, heute in enger Freundschaft verbunden, haben sich nicht einander entfremdet; sie haben sich gewissermaßen nur auseinander gelebt. Deutlichstes Symbol dafür vielleicht die Sprache. In Schrift und Vokabular, also in den Urformen, ist sie heute noch fast vollkommen identisch, und man muß schon das Ohr für die allerletzten Nuancen geschärft haben, um zu erkennen, ob man das Buch eines brasilianischen oder eines portugiesischen Dichters in Händen hält. Anderseits ist kaum ein einziges Wort der Ursprache der Tupís und Tapuyas, wie sie die ersten Missionäre noch verzeichneten, in das Brasilianisch von heute übergegangen. Der Brasilianer spricht – dies der ganze Unterschied – das Portugiesische nur anders, eben brasilianischer aus als der Portugiese, und das Merkwürdigste ist, daß dieser brasilianische Akzent, dieser brasilianische Dialekt vom Norden bis zum Süden, vom Osten zum Westen über achteinhalb Millionen Quadratkilometer ein und derselbe geblieben ist, also eine vollkommene Nationalsprache. Noch verstehen sich der Portugiese und der Brasilianer vollkommen, da sie sich derselben Worte, derselben Syntax bedienen, aber in der Intonation und zum Teil auch schon im literarischen Ausdruck beginnen sich diese ursprünglich minimalen Varianten ungefähr in dem gleichen Verhältnis zu verstärken, wie sich Engländer und Amerikaner innerhalb derselben Sprachwelt von Jahrzehnt zu Jahrzehnt deutlicher als Individualitäten voneinander absondern. Tausend Meilen Distanz, ein anderes Klima, andere Lebensbedingungen, neue Bindungen und Gemeinsamkeiten mußten sich nach vierhundert Jahren allmählich fühlbar machen, und langsam, aber unaufhaltsam mußte hier ein neuer Typus, eine ganz spezifische Volkspersönlichkeit entstehen.
Was den Brasilianer physisch und seelisch charakterisiert, ist vor allem, daß er zarter geartet ist als der Europäer, der Nordamerikaner. Der wuchtige, der massige, der hochaufgeschossene, der starkknochige Typus fehlt beinahe vollkommen. Ebenso fehlt im Seelischen – und man empfindet es als Wohltat, dies vertausendfacht zu sehen innerhalb einer Nation – jede Brutalität, Heftigkeit, Vehemenz und Lautheit, alles Grobe, Auftrumpfende und Anmaßende. Der Brasilianer ist ein stiller Mensch, träumerisch gesinnt und sentimental, manchmal sogar mit einem leisen Anflug von Melancholie, die schon Anchieta 1585 und Padre Cardim in der Luft zu fühlen meinten, als sie dieses neue Land »desleixada e remissa e algo melancólico« [vernachlässigt und zurückgeblieben und etwas melancholisch] nannten. Sogar im äußeren Umgang sind die Formen merkbar gedämpft. Selten hört man jemanden laut sprechen oder gar zornig einen andern anschreien, und gerade wo sich Massen sammeln, spürt man am deutlichsten diese für uns auffällige Sordinierung. Bei einem großen Volksfest wie dem bei Penha oder einer Überfahrt im Ferryboat zu einer Art Kirchweih nach der Insel Paquetá, wo in einem dichtgedrängten Raum Tausende Menschen und darunter unzählige Kinder versammelt sind, hört man kein Toben und Juchzen, kein gegenseitig sich zu wilder Lustigkeit Anfeuern. Auch wenn sie sich in Massen vergnügen, bleiben hier die Menschen still und diskret, und diese Abwesenheit alles Robusten und Brutalen gibt ihrer leisen Freude einen rührenden Reiz. Lärm zu machen, zu schreien, zu toben, wild zu tanzen, ist hier der Sitte eine derart gegensätzliche Lust, daß sie gleichsam als Ventil aller zurückgestauten Triebe den vier Tagen des Karnevals aufgespart ist, aber selbst in diesen vier Tagen des anscheinend zügellosen Übermuts kommt es innerhalb einer Millionenmasse gleichsam von einer Tarantel gestochener Menschen nie zu Exzessen, Unanständigkeiten oder Gemeinheiten; jeder Fremde, ja sogar jede Frau kann sich beruhigt auf die quirlenden, von Lärm explodierenden Straßen wagen. Immer bewahrt der Brasilianer seine natürliche Weichheit und Gutartigkeit. Die allerverschiedensten Klassen begegnen sich untereinander mit einer
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