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Brasilien: Ein Land der Zukunft

Brasilien: Ein Land der Zukunft

Titel: Brasilien: Ein Land der Zukunft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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Höflichkeit und Herzlichkeit, die uns Menschen des in den letzten Jahren arg verwilderten Europa immer wieder von neuem erstaunt. Man sieht auf der Straße zwei Männer sich begegnen; sie umarmen sich. Unwillkürlich denkt man, es seien Brüder oder Jugendfreunde, von denen einer gerade aus Europa oder von einer exotischen Reise zurückgekehrt sei. Aber an der nächsten Ecke sieht man wieder zwei Männer sich in dieser Art begrüßen und erkennt, daß die Akkolade [die Umarmung] zwischen Brasilianern eine durchaus selbstverständliche Sitte ist, ein Ausstrom natürlicher Herzlichkeit. Höflichkeit wiederum ist hier die selbstverständliche Grundform menschlicher Beziehung, und sie nimmt Formen an, die wir in Europa längst vergessen haben – bei jedem Gespräch auf der Straße behalten die Leute den Hut in der Hand, wo immer man eine Auskunft erbittet, wird einem mit begeistertem Eifer geholfen und in den höheren Kreisen das Ritual der Förmlichkeit mit Besuch und Gegenbesuch und Kartenabwerfen mit protokollarischer Genauigkeit erfüllt. Jeder Fremde wird auf das zuvorkommendste empfangen und auf das gefälligste ihm der Weg geebnet; mißtrauisch wie wir leider geworden sind gegen alles natürlich Humane, erkundigt man sich bei Freunden und neu Eingewanderten, ob diese offenbare Herzlichkeit nicht eine bloß formelle und formale sei, ob dieses gute, freundliche Zusammenleben ohne sichtbaren Haß und Neid zwischen Rassen und Klassen nicht eine Augentäuschung ersten oberflächlichen Eindrucks sei. Aber einstimmig hört man von allen als erste und wesentlichste Eigenschaft dieses Volkes rühmen, daß es von Natur aus gutartig sei. Jeder einzelne, den man befragt, wiederholt das Wort der ersten Ankömmlinge: »É a mais gentil gente.« [Es sind die liebenswürdigsten Menschen.] Nie hat man hier von Grausamkeit gegen Tiere gehört, nie von Stierkämpfen oder Hahnenturnieren, nie hat selbst in den dunkelsten Tagen die Inquisition ihre Autodafés der Menge dargeboten; alles Brutale stößt den Brasilianer instinktiv ab, und es ist statistisch festgestellt, daß Mord und Totschlag fast niemals als geplante und vorausbedachte Tat geschehen, sondern immer spontan als »crime passional«, als ein plötzlicher Ausbruch von Eifersucht oder Gekränktheit. Verbrechen, die an List, Berechnung, Raubgier oder Raffiniertheit gebunden sind, gehören zu den größten Seltenheiten; es ist nur wie ein Nervenriß, ein Sonnenstich, wenn ein Brasilianer zum Messer greift, und mir selbst fiel es auf, als ich die große »Penitenciäria« [das große Gefängnis] in São Paulo besuchte, daß der eigentliche in der Kriminologie genau verzeichnete Verbrechertypus völlig fehlte. Es waren durchaus sanfte Menschen mit stillen, weichen Augen, die irgend einmal in einer überhitzten Minute etwas begangen haben mußten, von dem sie selber nicht wußten. Aber im allgemeinen – und dies bestätigte jeder Eingewanderte – liegt jede Gewalttätigkeit, alles Brutale und Sadistische auch in den unmerklichsten Spuren dem brasilianischen Menschen vollkommen fern. Er ist gutmütig, arglos, und das Volk hat jenen halb kindlich-herzlichen Zug, wie er dem Südländer oft zu eigen ist, aber doch selten in einem so ausgesprochenen und allgemeinen Maß wie hier. In all den Monaten bin ich hier keiner Unfreundlichkeit begegnet, nicht oben und nicht unten; überall konnte ich den gleichen – heute so seltenen – Mangel an Mißtrauen gegen den Fremden, gegen den Andersrassigen oder Andersklassigen feststellen. Manchmal, wenn ich in den »favelas«, diesen prachtvoll pittoresken Negerhütten, die auf den Felsen mitten in der Stadt wie schwankende Vogelhäuschen liegen, neugierig herumkletterte, hatte ich ein schlechtes Gewissen und schlimmes Vorgefühl. Denn schließlich war ich gekommen, mir als Neugieriger eine unterste Stufe der Lebenshaltung anzusehen und in diesen jedem Blick wehrlos offenstehenden Lehm- oder Bambushütten Menschen im primitivsten Urzustand zu beobachten und somit unbefugt in ihre Wohnungen und damit in ihr privatestes Leben hineinzuschauen; im Anfang war ich eigentlich ständig gewärtig, etwa wie in einer proletarischen Arbeitergegend in Europa, einen bösen Blick ins Auge oder ein Schimpfwort in den Rücken zu bekommen. Aber im Gegenteil, diesen Arglosen ist ein Fremder, der sich in diesen verlorenen Winkel bemüht, ein willkommener Gast und beinahe ein Freund; mit blinkenden Zahnreihen lacht der Neger, der einem wassertragend

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