Brasilien: Ein Land der Zukunft
und Plagen zu befreien wissen und den durch Fieber und Unterernährung in seiner Leistungskraft bedrohten Teil der Bevölkerung in das aktive und produktive Leben einschalten. Wo man vor fünf Jahren von Rio de Janeiro bis Belo Horizonte sechzehn Stunden brauchte, saust heute das Flugzeug in anderthalb Stunden; in zwei Tagen kann man statt vordem in zwanzig im Herzen der Wälder des Amazonas, in Manaus, sein, ein halber Tag bringt einen nach Argentinien, zweieinhalb Tage nach Nordamerika, zwei Tage nach Europa, und all diese Zahlen gelten bloß für heute; morgen wird sie der aeronautische Fortschritt wahrscheinlich schon halbiert haben. Die Bewältigung seines riesigen Raums, diese Crux, diese Hauptschwierigkeit des brasilianischen Wirtschaftsproblems, ist theoretisch eigentlich schon gelöst und in praktischer Überwindung begriffen; wer weiß zu sagen, ob nicht auch die Schwierigkeit der Transporte in knapper Frist schon überwunden sein wird durch eine neue Art der Luftschiffe und andere Erfindungen, für die sich unsere Phantasie heute noch als zu arm und zu ängstlich erweist. Auch der anderen, scheinbar unüberwindbaren Hemmung, der unzulänglichen Arbeitsleistung in dem tropischen Klima, das die individuelle Energie vermindert und die körperliche Frische bedroht, beginnt die Technik entschlossen auf den Leib zu rücken. Was heute noch wenigen Luxusstätten vorbehalten ist, die Luftkühlung der Wohnungen und Büros, wird hier in einigen Jahren so allgebräuchlich und selbstverständlich sein, wie in unseren kälteren Zonen die Zentralheizung. Wer sieht, was hier geleistet worden ist, und zugleich weiß, was hier noch zu leisten ist, für den ist es gewiß, daß die Überwältigung aller Schwierigkeiten nur eine Frage der Zeit ist. Aber man vergesse nicht, daß die Zeit in sich selbst kein einheitliches Maß mehr ist, daß sie sich beschleunigt hat durch den Antrieb der Maschine und den noch großartigeren Organismus des menschlichen Geistes. Ein Jahr unter der Ära Getúlio Vargas’ kann heute, 1940, mehr leisten wie ein Jahrzehnt unter Dom Pedro II., 1840, und ein Jahrhundert vorher unter einem König João. Wer heute das Tempo sieht, in dem hier die Städte wachsen, die Organisation sich verbessert, die potentiellen Kräfte sich in faktische umwandeln, der fühlt, daß – ganz im Gegensatz zu vordem – die Stunde hier mehr Minuten hat als bei uns in Europa. Aus welchem Fenster man blickt, überall wächst ein Haus, an jeder Straße und weithin am Horizont sieht man neue Siedlungen, und noch mehr als alles ist hier der Geist und die Freude an der Unternehmung gewachsen. Zu all den Kräften, den noch ungehobenen und unbekannten Brasiliens, ist in den letzten Jahren eine neue getreten: das Selbstbewußtsein der Nation. Lange hat sich dieses Land daran gewöhnt gehabt, in Kultur und Fortschritt, in Arbeitstempo und Leistung hinter Europa zurückzubleiben. Demütig hatte es, mit einer Art verspätetem Kolonialbewußtsein, zu der Welt über dem Ozean als der erfahreneren, der weiseren, der besseren aufgeblickt. Aber die Verblendung Europas, das in törichten Nationalismen und Imperialismen sich nun zum zweitenmal selbst verwüstet, hat hier die neue Generation auf sich selbst gestellt. Vorbei ist die Zeit, da Gobineau spotten konnte: »Le brésilien est un homme qui désire passionnément habiter Paris.« [Der Brasilianer ist ein Mensch, der sich leidenschaftlich wünscht, in Paris zu leben.] Kein Brasilianer und selten ein Immigrant wird sich mehr finden, der zurückwollte in die alte Welt, und dieser Ehrgeiz, sich selbst allein und im Sinne der Zeit aufzubauen, drückt sich in einem ganz neuen Optimismus und Wagemut aus. Brasilien hat gelernt, in den Dimensionen der Zukunft zu denken. Wenn es ein Ministerium baut, wie jetzt das Arbeitsministerium, das Kriegsministerium in Rio de Janeiro, so ist es größer als eines in Paris oder London oder Berlin. Wenn ein Stadtplan angelegt wird, kalkuliert man die fünffache, die zehnfache Bevölkerung von vornherein ein. Nichts ist zu verwegen, nichts zu neu, als daß sich dieser neue Wille nicht daran wagte. Nach langen Jahren der Unsicherheit und Bescheidenheit hat das Land gelernt, in den Dimensionen seiner eigenen Größe zu denken und mit seinen unbeschränkten Möglichkeiten als mit einer bald greifbaren und erfaßbaren Realität zu rechnen. Es hat erkannt, daß Raum Kraft ist und Kräfte erzeugt, daß nicht Gold und nicht erspartes Kapital den Reichtum eines
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