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Brasilien

Brasilien

Titel: Brasilien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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Isabel nicht mit Eudóxia herumzog, denn Eudóxia und ihre drei Brüder waren von den Eltern in die Berge mitgenommen worden, um der Sommerhitze zu entgehen – erst nach Petrópolis, wo der Hof des zweiten Dom Pedro einen Palast, das heutige Museu Imperial, errichtet hatte und man an den Ufern der Kanäle und auf den kurvenreichen Hangstraßen mit den prächtigen Villen noch Reitpferde und Kutschen sehen konnte, und dann für einige Wochen nach Nova Friburgo, wo eine Kolonie von schweizerischen Einwanderern ein heimwehkrankes Alpendorf errichtet hatte. Klettern, Tennis spielen, Bootspartien, Reitausflüge und eine immerwährende Blütenpracht: Isabel hatte diese Vergnügungen, als sie noch jünger war, oft genug mit ihrem Onkel und dessen Frau genossen, der schlanken und eleganten Tante Luna, ehe es zu der unseligen Trennung der beiden kam – ihrer desquite, denn eine Scheidung war rechtlich unmöglich. Tante Luna entstammte der dünnen Oberschicht von Salvador und lebte jetzt in Paris, von wo sie Isabel alljährlich zu Weihnachten ein Hermes-Halstuch oder einen Gürtel von Chanel schickte. Sie war für das Mädchen einer Mutter am nächsten gekommen. In Petrópolis war es, selten genug, vorgekommen, daß Isabels Vater sich von seinen Verpflichtungen in Brasília freimachte und für ein Wochenende herübergeflogen kam. Wie aufregend sie das gefunden hatte, neben ihm im Restaurant des Grand Hotels zu sitzen, angezogen wie eine richtige Frau, affektiert und aufgeputzt, mit gestärkten Rüschen rund um das Dekolleté, die zart auf ihrer nackten Haut kratzten, während im Hintergrund, jenseits des Panoramafensters, ein dünner Wasserfall zwischen fernen, grünen Bergkegeln funkelte und Wasserskifahrer hellblaue, verschlungene Spuren ins dunklere Blau eines Sees zeichneten. Doch diese Freuden gehörten zur Kindheit, waren schon so klein wie das Lächeln auf den Erinnerungsfotos.
    «Welche Grenzen gibt es denn in Brasilien?» fragte sie ihren Onkel. «Ich dachte, dies wäre ein Land, in dem jedermann seines eigenen Glückes Schmied ist, egal, welche Hautfarbe er hat.»
    «Ich spreche nicht von der Farbe. Ich bin farbenblind, ganz wie unsere Verfassung, ganz wie unser Volkscharakter, den wir von den großherzigen Zuckerbaronen geerbt haben. Wir sind hier nicht in Südafrika, Gott sei Dank, und auch nicht in den Vereinigten Staaten. Aber ein Mann kann sein Glück nicht aus heißer Luft schmieden. Er braucht Ressourcen.»
    «Die in den Händen der wenigen liegen, wo sie schon immer gelegen haben», sagte Isabel und zog ungeduldig an einer der gefärbten englischen Zigaretten ihres Onkels.
    Onkel Donaciano verankerte seine Zigarettenspitze aus Ebenholz und Elfenbein – die leer war, weil er mit dem Rauchen aufhören wollte und die Spitze nur – als Surrogat benutzte – tiefer im Mundwinkel, was seinen Lippen einen wissenden und warnenden Zug verlieh. Seine Lippen waren schmal, aber rötlich, als hätte er sie eben abgeschrubbt. «In den Händen der vielen würde alles zerrinnen», erklärte er. «Auch so hat sich das Rio meiner Jugend schon in einen einzigen großen Slum verwandelt. Dabei war es so schön, so vergnüglich – die Straßenbahn, die am botanischen Garten entlangfuhr, der Schrägaufzug nach Santa Teresa oder das Casino, in dem Bing Crosby gastierte. Dieser altmodische Charme, wie ein seltenes Stück Muranoglas, ganz einzigartig. Und heute ist es unter seiner prächtigen Schale verfault. Es hat keine Luft zum Atmen und keine Ruhe. Andauernd der Verkehrslärm und die Musik, diese hirnlose Sambamusik. Überall der Gestank von menschlichen Ausscheidungen. Überall bodum .»
    «Stinken wir etwa nicht, du und ich? Haben wir keine Ausscheidungen?» Mit jeder Silbe stieß Isabel eine Rauchwolke aus, wie Wolken des Zorns.
    Donaciano musterte sie und versuchte, seinen höhnischen Gesichtsausdruck wieder in den eines liebenden Onkels zurückzuverwandeln. Er nahm die leere Zigarettenspitze aus dem Mund. In seine glatte, hohe Stirn – die dank einer feinfühligen Dosierung von Sonnenbädern ebenmäßig walnußbraun gefärbt war – gruben sich Falten, wie mechanisch eingepreßt, als er sich ihr mit neuem Nachdruck und Freimut entgegenbeugte. «Du hast den Jungen benutzt. Ich hätte dir nicht dazu geraten, aber du hast recht, es gibt in jedem Leben Dinge, die man nicht vom Rat der Älteren abhängig machen kann. Manche Schritte müssen im Trotz, gegen den Strom getan werden. Es gibt kein Wachstum ohne Überschreitung,

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