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Brasilien

Brasilien

Titel: Brasilien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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Brasília», seufzte ihr Vater, «hat unser schönes Rio ein wenig zu dem gemacht, was die Engländer eine Strohwitwe nennen, und außerdem hat er das Gefühl der Menschen verstärkt, daß die Regierung etwas Fernes und Phantastisches ist, etwas, das so gut wie nichts mit ihnen zu tun hat.»
    «Es wird nicht lange dauern», versuchte Tristão zu trösten, «bis die Entwicklung Brasiliens die neue Hauptstadt eingeholt hat und Brasília mitten im Geschehen liegt. Die Menschen der Zukunft werden sich viel eher fragen, warum es so weit östlich errichtet wurde. Isabel und ich sind kürzlich durch den Mato Grosso gereist, und wir waren verblüfft, wie rasch die Entwicklung voranschreitet. All der überflüssige Luxus der modernen Zeit, bis hin zu Busladungen von Touristen, erscheint plötzlich inmitten einer unschuldigen Wildnis.»
    «Es ist ein wahrer Alptraum», pflichtete der Ältere bei und ließ bekräftigend die Sohlen seiner Lacklederslipper auf den wollig-weißen Teppich klatschen. «Und wie das Schicksal es fügt, ist es mein Alptraum, denn ich bin seit kurzem, wie Isabel Ihnen vielleicht mitgeteilt hat, der zweite Mann im Ministerium für innere Entwicklung – ein zweiter Mann jedoch mit den Alpträumen des ersten, denn der sogenannte Minister ist ein unverbesserlicher General, dessen einzige echte Leidenschaft darin besteht, in Argentinien und in Paraguay herumzuspionieren, ob sie dort womöglich irgendeinen Flugkörper oder Überschalljäger haben, der in unserem Arsenal noch fehlt. Er ist vollkommen paranoisch in dieser Hinsicht und stellt sich vor, daß Castro ständig neue, wunderbare Kriegsspielzeuge von den Russen bekommt, die uns durch unsere Partnerschaft mit den westlichen Imperialisten vorenthalten bleiben. Ach bitte – was kann ich euch zu trinken anbieten?»
    Der Hausdiener war mit einem fast tänzerischen Schritt, der seine roten Rastaringel schwingen ließ, ins Zimmer geglitten. Isabel bestellte ein Glas Weißwein, nicht unbedingt französischen, aber auch nicht aus Chile oder Australien; ihr Vater, mit ausladenden Gesten seiner kurzen Arme, einen Gimlet, sehr trocken, mit zwei Zwiebeln; und der puritanische Tristão eine vitamina. Isabel kämpfte gegen die aufflackernde Angst, daß er einen klaren Kopf für den Kampf bewahren wollte und daß die Hand, die immer wieder in die Seitentasche seines Jacketts schlüpfte, an der Rasierklinge herumfingerte.
    «Ach, Papa», stieß sie in ihrer Nervosität hervor, «laß es nicht zu, daß der sertão von der Zivilisation überrollt wird. Es ist furchtbar, was sie den Indianern dabei antun!»
    Ihr Vater wandte ihr sein Gesicht, das groß war für einen so kleinwüchsigen Mann, mit der hohen Stirn und den feuchten, schwerblütigen Augen zu und sagte in einer Stimme, die nicht sanft genug war, um einen Unterton von Tadel zu verbergen: «Wir haben eine Indianerschutzbehörde, Isabel, die FUNAI, die über einen beachtlichen Etat und noch mehr Publicity verfügt. Indianer, Indianer – überall, wo die Regierung neue Schritte unternehmen will, tritt sie dabei auf Indianer. Riesige Landstriche sind für sie unter Schutz gestellt worden, am Amazonas, am Xingú, im Pantanal, wo sie nach Herzenslust herumlungern und sich austoben und ihre garstigen kleinen Beutezüge nach den Frauen ihrer Nächsten unternehmen können. Aber im Ernst – und da appelliere ich an Ihr Verständnis, Senhor Raposo –: Wie kann eine Regierung es hinnehmen, daß die Interessen von einhunderttausend Steinzeitmenschen dem Fortschritt eines Hundertmillionenvolkes im Wege stehen? Die Indianer hochschätzen, ja! Die Greuel der Vergangenheit bereuen, ja! Aber wiegt ein ungebildeter, von Seuchen heimgesuchter Indio wirklich tausend zivilisierte Männer und Frauen auf? Das frage ich Sie, Senhor!»
    «Nicht tausend, natürlich nicht», erwiderte Tristão. «Aber er wiegt genauso schwer wie ein Mann oder eine Frau aus unserer Zivilisation. Er ist ein Brasilianer, genau wie wir alle.»
    Isabels Vater kniff die Augen zusammen. Während er einen zweiten kleinen Schluck von seinem sehr trockenen Gimlet nahm, ging ihm auf, daß ein Geistesblitz in ihn eingeschlagen hatte, eine im verbindlichsten Tonfall vorgetragene Weisheit. Er lächelte, so verdattert, wie es Isabel noch nie an ihm gesehen hatte. «Genauso ist es.»
    «Papa», schaltete Isabel sich ein, «wir haben einige Zeit unter den Indianern gelebt, und sie hätten nicht freundlicher sein können. Von ein paar Ausnahmen abgesehen», fügte sie

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