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Brasilien

Brasilien

Titel: Brasilien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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Erde für den Weitertransport von Urin und Exkrement ins Territorium des nächsten illegalen Siedlers sorgte. Die Stimme von Tristãos Mutter erklang, undeutlich und schlaftrunken, an einer nicht genau zu ortenden Stelle, die in einer der Ecken liegen mußte, wo es am dunkelsten war, am sichersten vor Wind und Wetter, und wo der Fußboden uneben wurde, sich die fahlen Umrisse von Wellen und Mulden zeigten, wie vom Morgenlicht aus einer fernen Bergkette geschält.
    Seine Mutter hieß, wie Isabel schon wußte, Ursula, Ursula Raposo. Sie hatten die Frau aufgeweckt, als sie vergangene Nacht, vollkommen außer Atem, hier angekommen waren. Es war eine endlose Kletterei gewesen, die Hänge des Morro do Babilônia empor. Nach dem mondbleichen Zickzack der steilen Gassen kam ihnen das Innere der Hütte so finster vor wie ein Tintenfaß. Ein Zündholz war aufgeflammt, hatte sich dem Gesicht von Isabel so weit genähert, daß es ihre langen Wimpern versengte, und war dann ausgeblasen worden, von einem Atemstoß, der süßlich nach Zuckerrohrschnaps stank.
    «Weißes Fräulein hat bestimmt schon Herrn», hatte die Stimme, die zu dem Zündholz und dem fauligen Atem gehörte, gesagt. «Wie kommt’s, daß du sie gestohlen hast?»
    «Nicht gestohlen, Mutter. Gerettet. Ihr Onkel wollte sie gerade zu ihrem Vater schicken. Sie will nicht hin. Sie will bei mir bleiben. Wir lieben uns. Sie heißt Isabel.» Dies alles flüsterte Tristão, mit drängender Stimme, nur Zentimeter von Isabels Ohr entfernt.
    Die Finsternis grunzte, dann raschelte es plötzlich, und der Luftzug einer Bewegung war zu spüren. Aus einem leisen, dumpfen Geräusch ganz dicht bei ihrem Kopf erschloß Isabel, daß Tristão von einem Fausthieb getroffen worden war. «Bringst du mir Geld?»
    «Ein wenig, Mutter. Genug für eine Wochenration cachaça .»
    Es folgte ein leiseres Rascheln, wie von Papier, und die süßsäuerliche Wolke aus Alkohol und Körperwärme entfernte sich. Isabel spürte, wie die starke Hand ihres Liebhabers sie leicht in eine Richtung lenkte, in der sie kaum aufzutreten wagte, denn der Boden unter ihren Füßen war uneben und mit Abfällen übersät, und die Finsternis war noch immer absolut. Unsichtbares – Skorpione oder die Fühler riesiger Hundertfüßer – strich über ihre Knöchel, und mit dem Ellenbogen rammte sie einen unbehauenen Stützbalken, um den sich Tristão, der noch immer ihre Hand gepackt hielt, herumgeschlängelt hatte. Sie spürte die Spannung der Befangenheit, mit der es ihn erfüllte, sie bei sich zu Hause zu haben.
    «Hier, Isabel», sagte er; sein angespannter Griff zog sie nach unten, in eine Lücke, in der das nackte Erdreich mit kratzigen, rauhen Säcken bedeckt war, die, nach ihrem schwachen Duft zu schließen, mit getrockneten Blumen oder vielleicht den Skeletten von sehr kleinen und zerbrechlichen Lebewesen ausgestopft waren. Als sie ihre eigenen, zerbrechlichen Knochen darauf ausstreckte und sich in diesem Augenblick so sicher vor Verfolgung fühlte, als läge sie tot in einem Grab, stieß sie einen fast lustvollen Seufzer aus.
    «Ruhe!» schnarrte augenblicklich Ursulas Stimme, ganz dicht, so schien es, an Isabels Ohr, obwohl sie eine beträchtliche Strecke durch das Dunkel getappt waren, durch diese atmende Schwärze, die geladen war mit fremder Gestalt und Anwesenheit. Ganz in der Nähe erhob sich ein leises Schnarchen, vielleicht auch eine Überlagerung mehrerer Atemrhythmen, und Tristãos Mutter fing an zu singen, zusammenhanglos, leise, unablässig, ein ständiges Auf und Ab eines Liedes, das kein Ende finden wollte. Es war kein unangenehmes Geräusch, und es mischte sich mit dem Gemurmel außerhalb der unsichtbaren Wände dieser Hütte, mit Gesprächen und Füßetrappeln weiter unten in der favela, mit dem nächtlichen Strömen des Verkehrs von Rio in der Tiefe und mit dem Rasseln und dem Trommelschlag einer Sambakapelle, erst aus der Richtung der City unter ihnen und dann von der anderen Seite, noch höher auf dem Berg, als wollten selbst die Engel schon für den Karneval üben.
    Trotz der seltsamen und gefährlichen Lage, in der sie sich befand, fühlte Isabel nach der überstürzten Flucht aus Ipanema, nach dem Dauerlauf über die Copacabana, nach dem langen Aufstieg auf den morro, an dessen Hängen die favela wie eine im Mondlicht gefrorene Lawine klebte, eine wohlige Schläfrigkeit. Sie spürte Tristãos Körper hart und wachsam neben sich, und als Kissen für ihr Gesicht hatte er ihr einen

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