Brasilien
ausgemergelte Frauengestalt, die ein türkisfarbenes Halstuch als Turban um den Kopf geschlungen hatte, tappte an den zusammengeflickten Wänden entlang, die sie, um sich zu orientieren, mit ausgestreckten Armen berührte. Ihre Augen hatten keine Iris mehr; sie war blind. Ihre Haut war von Rissen durchzogen wie Steppenboden nach einer langen Dürre.
«Ist das deine Mutter?» erkundigte sich Isabel bei Ursula. Obwohl letztere sie mit keiner Geste ermutigte, fühlte Isabel sich zu ihr hingezogen; sie konnte ihr eine Ratgeberin sein in dieser neuen Kunst des Frauseins.
«Meine Mutter? Ich hatte keine verdammte Mutter», kam in monotonem Gemurmel die Antwort. «Das alte Mütterchen sagt, es ist die Mutter meiner Mutter, damals in Bahia, aber wer kann’s beweisen? Sie lebt hier, sie weiß sonst nicht wohin. Alle kommen einfach her, platzen hier rein und lassen sich von meiner Fotze durchfüttern. Meine arme Fotze ist schon ganz ausgeleiert durch dieses ganze Bastardpack.» Unwillig drehte sie sich zur Seite, so daß der kleine Mann, der an ihr klebte, losgerissen wurde und wieder auf seinen Rücken fiel. Er öffnete die Augen zu einem schmalen Spalt, wie eine Eidechse beim Züngeln. «Hat nichts in den Taschen außer seinen Eiern», sagte Ursula zu Isabel und fügte, als ahnte sie deren Bedürfnis nach guten Ratschlägen, hinzu: «Laß die Kerle immer erst blechen, eh du die Beine breitmachst. Und in den Arsch rein kostet extra, weil’s weh tut.»
Das Mütterchen mitgezählt, waren es sieben Personen. Also blieb immer noch ein Fladen aus Maisbrei übrig, kalkulierte Isabel. Sie und Tristão konnten ihn sich teilen. Ihr Hunger war wie ein greifbarer Gegenstand, den sie durch den Schleier des Lebens rund um sie her betrachten konnte. Selbst die Wände der Hütte kamen ihr mit den ausgefransten blauen Lichtscherben, die von draußen hereindrangen, den Geräuschen der vibrierenden favela und des tosenden Verkehrs von Rio tief unten und dem immer fühlbareren Druck der Morgensonne von oben so transparent vor wie ein Schleier. In der Ecke, aus der das Mütterchen mit dem Turban hervorgekrochen war, rappelten sich jetzt zwei andere Gestalten hoch, ein bulliger Mann und eine ebenfalls kompakte Frau, die beide über die erste Jugend hinaus, aber noch nicht alt waren und sich durch den verrauchten Eingang davonmachten, nachdem sie jeder geschwind einen heißen Fladen von dem Ölfaßdeckel genommen hatten.
Isabel staunte, unter wie vielen Menschen sie so fest geschlafen hatte. Diese Armen hatten, wie die Tiere, taktvolle Strategien der Abgrenzung entwickelt. Die ganze Hütte erwies sich jetzt, da sie ihre Dimensionen abschätzen konnte, als nicht größer als das schönere der Badezimmer ihres Onkels, in dem sich die große, in den Boden eingelassene Wanne befand und die lavendelfarbene Toilette mit der gepolsterten Brille und das dazu passende Bidet und die beiden Waschbecken vor dem gemeinsamen, riesigen Spiegel, dazu zwei Hängeschränke (einer für Arzneimittel, der andere für die verlassenen Kosmetika von Tante Luna), der Wäschekorb, die Handtuchhalter, der Handtuchtrockner, rundbogig wie ein Kirchenfenster und von innen beheizt, die separate Duschkabine mit Mattglasscheiben und einem vertieften Fliesenboden und der Schrank, in dem Maria Stapel von säuberlich gefalteten Frotteehandtüchern aller Größen aufbewahrte – wie flauschige Treppen waren sie ihr als kleinem Mädchen vorgekommen. Wenn sie erst größer wäre, würde sie über diese Stufen steigen und eine Hausfrau wie Tante Luna werden, aber mit noch mehr Frotteehandtüchern und noch viel flauschigeren und einem Ehemann, der noch viel schöner wäre als Onkel Donacia no …
5. Der Kerzenleuchter
Ein Streit braute sich zusammen. Euclides, der am Strand noch ein liebenswerter junger Spund mit einem offenen Gesicht gewesen war, bestand gegenüber seinem Bruder darauf, daß ihr Besitz, wenn man so wollte, dieses bleichen, reichen Mädchens sich in barer Münze auszahlte. Tristão hielt die beiden Reisetaschen umklammert, beide unter dem linken Arm, so daß seine rechte Hand frei blieb. Sie lag auf dem Gürtel seiner Shorts, ganz dicht bei der Stelle, wo er, wie Isabel wußte, seine Rasierklinge versteckt hielt. «Sie gehört mir», sagte Tristão gerade. «Ich habe ihr geschworen, daß ihr nichts Böses widerfahren wird. Du hast es mit eigenen Ohren gehört.»
«Ich habe dich gehört, aber ich selbst habe ihr nichts versprochen. Ich habe nur zugesehen, wie du
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