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Brasilien

Brasilien

Titel: Brasilien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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daß sie für ihn nur ein Termin von vielen an diesem Tage war, ein erster, dem weitere folgten. Bei ihrem Eintreten war er schon in die Zeitungen vertieft, die sich in mehreren Sprachen neben seinem Teller stapelten. Er stand auf und begrüßte sie mit einem Gesichtsausdruck, der nicht verhehlte, daß er sich gestört fühlte.
    «Mein schönes, irregeleitetes Kind», sagte er, als formuliere er den ersten Punkt der Tagesordnung. Er bedachte ihre beiden Wangen und dann auch die Lippen mit einem Kuß, dessen Kühle sie seit den Kindertagen an jene außerirdische Kälte der Stratosphäre erinnert hatte, die Gepäckstücken aus dem ungeheizten Laderaum eines Flugzeugs anzuhaften scheint. In ihren Erinnerungen war er immer aus einer großen, globalen Ferne zu ihr gekommen; die Wohnung war angefüllt (wenn auch, anders als bei Onkel Donaciano und dessen Erwerbungen, wegen ihrer Weitläufigkeit nicht überfüllt) mit Erinnerungsstücken an seine Reisen und Posten: Ein zwei Meter im Geviert messender tibetischer thang-ka, dessen Weltenbaum aus zartem Goldgespinst auf einem Grund von urtümlichem Grün und Purpur leuchtete, hing hinter einem intarsierten Louis-quinze-Frisiertisch, auf dem eine Ch’ing-Vase und eine hölzerne Ahnenfigur der Dogonen aus Mali standen. In Onkel Donacianos zweigeschossigem Appartement in Rio hingen großformatige Ölgemälde im derzeit gängigen abstrakt-expressionistischen Stil; ihr Vater bevorzugte kleine Stiche mit historischen Szenen und Bauwerken oder zweifarbige japanische Drucke, deren formale Meisterschaft die Grausamkeit der dargestellten Szenen leugnete.
    Er nahm ihr gegenüber an dem niedrigen Frühstückstisch Platz, in dessen Platte ein übergroßes Schachbrett eingelegt war. Er eröffnete die Verhandlung: «Ich hoffe, du hast gut geschlafen.»
    Sie erkannte, daß er gewillt war, ihr all den Respekt und die Aufmerksamkeit zu erweisen, die er auch für einen Diplomatenkollegen aufgebracht hätte. Trotzdem zuckten seine Augen immer wieder nervös zur obersten Zeitung auf seinem Stapel hinüber, deren Schlagzeilen von Aufruhr, regionalen Kriegen und drohenden Revolutionen überall auf dem Globus kündeten. «Ich bin gleich eingeschlafen, Vater, weil ich erschöpft war von der Reise, zu der mich dein Handlanger gezwungen hat. Aber um vier Uhr morgens wachte ich wieder auf. Erst wußte ich nicht, wo ich war; dann erschrak ich, als mir klar wurde, daß ich nicht rauskonnte – daß ich gefangengehalten wurde. In meiner Panik hätte ich fast geschrien. Ich dachte daran, mich aus dem Fenster zu stürzen, aber diese neumodischen Fenster lassen sich ja nicht öffnen.» Sie biß in ein mondsichelförmiges Stück Honigmelone, nachdem sie schon eine Buttersemmel und drei knusprige Scheiben Frühstücksspeck verzehrt hatte. Sie war beim Essen kein heikles kleines Mädchen mehr.
    «Und dann», fragte ihr Vater, «bist du wach geblieben?»
    «Nein», gab sie widerstrebend zu. «Ich bin wieder eingeschlafen, für ein oder zwei Stunden.»
    «Na bitte», sagte er mit einem triumphierenden Unterton und schielte wieder zum Zeitungsstapel hinüber. «Wir gewöhnen uns schnell an veränderte Umstände, so schnell, daß der Geist den Körper für einen Verräter hält.»
    «Ich bin eingeschlafen», sagte sie, «als ich mir vorstellte, wieder in den Armen meines Mannes zu liegen, dort, wo ich hingehöre.»
    «Genauso, wie du in das Hotel Amour gehörst, um astronomische Rechnungen auflaufen zu lassen und den Pagen zu verderben. Du hast dir einen kleinen Urlaub geleistet, liebe Isabel, aber nun ist es meine Pflicht, dich ins wirkliche Leben zurückzuführen.» Trotz allem war, wie sie fast bedauernd feststellte, ein gewisses Bemühen um Feinfühligkeit aus seinen Worten herauszuhören, während sich seine Blicke wieder zur Zeitung verirrten, um ein weiteres Bruchstück einer Schlagzeile zu erhaschen und seine Lippen am Ende jedes Satzes zurückzuckten und die kleinen, runden Zähne eines Kindes freigaben, gelblich verfärbt vom Alter.
    Zum erstenmal in ihrem Leben wagte sie es sich einzugestehen, daß ihr Vater ein zartes und empfindsames Kind gewesen sein mußte, leicht zu schikanieren, pedantisch in seinen Racheplänen. Irdische Macht war seine Rache, und sie erwies sich als schal.
    «Brasília ist wohl kaum das wirkliche Leben», beschied sie ihn, «und genausowenig bist du ein wirklicher Vater für mich gewesen. Du warst für mich ein verschleierter, unerreichbarer Stern, und vielleicht sollte ein Vater

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