Brasilien
Zelle.
Erst als Onkel Donaciano zu Besuch kam, wurde Tristão aus dieser Zelle befreit, denn mit ihrem Onkel wehte der Charme der Strandatmosphäre von Rio durch das steife Brasília mit seiner monotonen Gleichförmigkeit, seinem künstlichen See, seinen Windwirbeln aus rotem Staub, die sich überall erhoben, wo man es dem Gras der überbreiten Grünstreifen gnädig gestattet hatte zu verdorren. In seinem eiskrem-pastelligen Anzug mit zweifarbigen Entenschnabelschuhen und einem rotbebänderten Panamahut brachte er ihr Geschenke mit, über die sie längst hinausgewachsen war – einen Strauß kunstvoller Seidenblumen, ein Dreirad aus Keramik mit plumpen Rädern, die sich tatsächlich drehten, und eine kleine Zirkustruppe, deren Figuren aus vergoldetem Draht bestanden, der um Halbedelsteine aus Minas Gerais gewunden war. Er wollte das junge Mädchen in ihr am Leben erhalten, so wie er selbst die kindliche, verspielte Welt von Rio verkörperte, in der Erwachsene in Badekleidung auf die Straße gehen und das ganze Jahr an die Konstruktion des kurzlebigen Spielzeugs Karneval gewendet wird. Seine Neckereien mit gedämpfter Stimme und der Duft seiner English-Oval-Zigaretten in der Spitze aus Ebenholz und Elfenbein erinnerten sie an das Appartement mit dem schlangenarmigen Kronleuchter aus Messing und der weißen Rose des Oberlichts, in dem sie sich Tristão zum erstenmal hingegeben und mit ihrem Jungfernblut einen kelchförmigen Fleck in der gesteppten Satindecke auf ihrem Bett hinterlassen hatte. Onkel Donaciano verkörperte für sie so etwas Ähnliches wie Liebe. Sie drehte den DAR-Ring an ihrem Mittelfinger und fragte ihn nach Maria.
«Ach, Maria», sagte er. Unter seinen Augen lagen blaßlila Schatten, und ein paar Strähnen seiner ergrauenden honigblonden Haare waren von der Aura distinguierter Melancholie, die ihn umgab, aus der Fasson gebracht worden. «Maria wird älter.»
«Und weniger begehrenswert?» stichelte Isabel und blies Zigarettenrauch gegen die niedrige Zimmerdecke der väterlichen Wohnung. Salomão hatte empfindliche Lungen, und Isabel rauchte normalerweise nur in der Universität oder wenn Onkel Donaciano mit seinen verführerischen, in Pastelltönen gefärbten englischen Zigaretten zu Besuch kam. Die Sitzbank, auf der sie sich ausgestreckt hatte, war ein elegantes Möbel aus Teakholz und Rattan, das ihr Vater vor Jahren von einer Indienreise mitgebracht hatte; leider war es trotz der verzierten Polsterkissen in Purpur, Schwarz und Rosa nicht sonderlich bequem. «Vielleicht hast du sie zu stark rangenommen», steigerte sie ihre Unverschämtheit. «Du solltest sie zu einer ehrbaren Frau machen, zum Dank für ihre jahrelangen Dienste.»
Donaciano blinzelte mit seinen müden Augen und faßte sich ins Haar, wobei er es noch mehr zerraufte. Zumindest gesprächsweise hatte er Isabel als eine jener erwachsenen Frauen akzeptiert, deren Zuneigung die Form der Frechheit annahm. «Ich bin immer noch mit Tante Luna verheiratet», sagte er und fügte hinzu: «Wenn du so ungezogen bist wie eben, erinnerst du mich an deine Mutter. Es bricht mir das Herz.»
«Hat meine Mutter dir das Herz gebrochen?» Schon oft hatte sich Isabel gefragt, ob ihr Onkel die Frau seines Bruders geliebt hatte. Auf dem Toilettentisch in seinem Schlafzimmer hatte, neben dem obligatorischen Studioporträt und Urlaubsschnappschüssen von Tante Luna, ein gerahmtes Foto von Cordélia gestanden, auf dem sie, leicht unscharf, unter einer einzelnen Kiefer auf ein paar Felsblöcken posierte – eine Picknickszene, bei der eine Brise ihren weiten, weißgerüschten Rock und die langen, hauchdünnen Ärmel bauschte und die Bluse gegen ihre vollen Brüste preßte, der weiße Musselin ein prachtvoller Kontrast zu ihrem Teint mit jenem Tropfen Schwärze, der die wahre Schönheit einer Brasilianerin ausmacht, ihr unscharfes Gesicht mit halb geöffneten Lippen fröhlich lächelnd, ihre rundlichen Wangen glänzend, ihre Augenlider gesenkt, wie zum Schutz vor irgend etwas, das sie blendete. Isabel hatte oft heimliche Zwiesprache mit diesem Foto gehalten, wenn Onkel Donaciano außer Haus war, und sie hatte sich gefragt, wo sich wohl ihr Vater im Augenblick der Aufnahme befunden hatte, wie nahe oder wie weit außerhalb des Bildfeldes, das die Kamera erfaßte. Wer hatte ihre Mutter zum Lachen gebracht und dazu, ihren Blick so neckisch zu senken? Was hatten die Stimmen in der Luft gesagt? Die leichte Unschärfe, die über allem lag, war ihr wie eine Spur des
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