Brasilien
das auch sein, aber jetzt kann es mir keiner verbieten, meine Zuneigung auf einen Mann zu übertragen, der über mich gekommen ist wie die Sonne.»
Die mürben Augenlider ihres Vaters flatterten schmerzlich. In der durchscheinenden, bläulichen Haut unter dem einen Auge hatte sich ein nervöses Zucken entwickelt, und an der Schläfe pochte eine Ader. Sein Blick, wenn er ihn von der Zeitung losreißen und zu ihrem Gesicht heben konnte, war von einer ähnlichen, herabziehenden Schwere wie seine blasse Stirn. Mit Tristão verglichen, wirkte ihr Vater unfertig – die Haut dünn und farblos, wie in der Reifung unterbrochen, die Augen von einem schwachen, wäßrigen Graublau, der Schädel nicht von einer undurchdringlichen Kappe aus engen, öligen Haarwirbeln bedeckt, sondern mit glatten, schütteren Strähnen, die die kindliche Kopfhaut freigaben, und der ganze, untersetzte, halslose Körper zu nichts anderem geeignet, als in einem Sessel zu sitzen. Und doch sprach er mit unerschrockener Autorität und Präzision, als wäre seine ganze Männlichkeit in seine Stimme gewandert. «Erinnerst du dich noch», fragte er sie, «an unseren Besuch im Othon Palace, an die Dame, die uns begleitete?»
«Sie wollte wie eine Mutter zu mir sein», sagte Isabel, «und ich habe es ihr übelgenommen. Es war ein Versuch mit untauglichen Mitteln.»
«Auch ich habe gespürt, daß sie sich untauglicher Mittel bediente, um das Herz meiner Tochter zu gewinnen, und das hat viel zur Beendigung unserer Affäre beigetragen. Alles kann einer Frau verziehen werden außer Peinlichkeiten. So etwas haftet im Gedächtnis.»
Sein Portugiesisch kam Isabel, verglichen mit dem von Tristão oder Onkel Donaciano, neutral und farblos vor. Er beherrschte so viele andere Sprachen, daß sein Gehirn ständig übersetzte; seine Zunge war heimatlos geworden.
«Für mich», fuhr er fort, «war sie eine Offenbarung gewesen. Vier Jahre waren seit dem Tod deiner lieben Mutter vergangen. Abgesehen von gelegentlichen Besuchen bei den raparigas – die nur der physischen Hygiene dienten –, führte ich ein keusches Leben, anfänglich, weil es die Trauerzeit gebot, und später aus Gewohnheit. Eulália – so war ihr Name, den du vielleicht vergessen hast – , Eulália verwandelte mich in etwas, das ich bei deiner Mutter, trotz aller ihrer Vorzüge, nie gewesen war: in einen sinnlichen Mann. Zum erstenmal erkannte ich, daß die alte Kirche recht hatte und die Protestanten und Platoniker nicht – wir sind unsere Körper, und die Auferstehung von den Toten ist die einzige Antwort. Eulália hat mich von den Toten erweckt. Sie hat mich erschaffen, in dem Sinne, wie du glaubst, daß dieser Bursche dich erschaffen hat. Die traurige Wahrheit ist, daß er dich ausgenützt hat – deine sexuelle Unerfahrenheit, deine bürgerliche Langeweile, deinen jugendlichen Idealismus, deinen Brasilianischen Sinn für Romantik. Genauso hat Eulália auch mich ausgenützt – meine Männlichkeit, der so leicht zu schmeicheln war, meine Gewohnheiten beim Verkehr, meine Abhängigkeit von Frauen, wie sie das Sorgenkind einer Mutter entwickelt. Erst als ich sah, wie sie auch meine achtjährige Tochter zu verführen versuchte und dabei durch plumpe Übertreibung scheiterte, begann ich zu erwachen – denn die Liebe ist ein Traum, Isabel, und alle außer den Träumern wissen es. Sie ist die Narkose, deren sich die Natur bedient, um Kinder aus uns zu entbinden. Und wenn sich dieser Vorgang, wie bei deiner unbeschreiblichen Mutter, als tödlich erweist, was tut dann die Natur? Sie zuckt die Achseln und wendet sich ab. Die Natur kümmert sich nicht um uns, mein Liebling; und deshalb müssen wir uns um uns selbst kümmern. Du wirst nicht für einen schwarzen Jungen aus den Slums dein Leben wegwerfen. Du wirst Tristão niemals wiedersehen. Du wirst hier in Brasília bleiben und bei mir wohnen. Du wirst jeden Abend spätestens um Mitternacht zu Hause sein. Du wirst die Universität besuchen, die nur ein paar Häuserblocks von diesem Frühstückstisch entfernt ist. Seit sich unsere neue Regierung 1965 gezwungen gesehen hat, sie zu schließen und sowohl den Lehrkörper wie auch die Studentenschaft von unerwünschten radikalen Elementen zu befreien, mögen die Lehrpläne an diesem Institut etwas dürftiger im Inhalt geworden sein, aber desto gesünder im Geist. Protest und Nihilismus sind hier auf ein Minimum beschränkt – Welten entfernt von den Brutstätten von Anarchie und Aufruhr in den
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