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Brasilien

Brasilien

Titel: Brasilien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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Küstenstädten. Vielleicht wirst du in einem deiner Kurse einen charmanten Generalssohn kennenlernen.»
    «Und wenn ich mich weigere, dorthin zu gehen? Wenn ich fliehe?»
    Der pendelnde, wäßrige Blick ihres Vaters hob sich mit einem Lächeln, als handle es sich bei all den Gläsern und Tellern des Frühstücksgedecks zwischen ihnen um Schachfiguren und sie wäre mattgesetzt. «Dann soll dieser Tristão, den wir jetzt kennen und verfolgen können, auf schmerzlose Weise von dieser Welt verschwinden. Ich kann wohl davon ausgehen, daß nicht einmal seine Mutter die Behörden damit belästigen würde. Sie ist eine widernatürliche Mutter, oder vielleicht sollten wir sagen: eine allzu natürliche. Es wäre dann so, mein Engel, als ob du, nur du allein, von seiner Existenz geträumt hättest.» Seine lächelnden Lippen waren nicht rot, wie bei Onkel Donaciano, sondern so bleich wie die Haut, die zwischen seinem schütteren Haar hervorlugte, und noch weißer ließ sie der Puderzucker des Krapfens erscheinen, von dem ihr Vater, den Blick schon wieder hinunter zu den Zeitungen wendend, einen verblüffend gierigen Bissen genommen hatte.

10. Die beiden Brüder
    Zwei Jahre lang besuchte Isabel die Universidade de Brasília, wo sie Kunstgeschichte studierte. Dias von Höhlenzeichnungen und Kathedralen, von Historienbildern und impressionistischen Landschaften leuchteten in der Dunkelheit des Hörsaals auf und verloschen wieder. Alle stammten sie aus Frankreich. Die Kunst war französisch, und die Dozenten kauten auf den französischen Nasalen und dem krächzenden r herum, als hätten sie ihre eigentliche Muttersprache entdeckt. Natürlich, es gab noch ein paar Tempel in Kambodscha und deutsche Holzschnitte, und nach 1945 konnte man die New Yorker Schule nicht gänzlich außer acht lassen, aber verglichen mit Chartres und Cézanne war das alles letztlich nur ein ferner Abglanz oder eine besonders raffinierte Form von Barbarei. Wahre Kultur, so lernte Isabel, war eine überraschend eng lokalisierte, eine rein europäische und vorwiegend eine französische Angelegenheit. Nur die Biologie war weltweit – eine Summe aus Milliarden Paarungen.
    Wenn sie Rendezvous mit einigen ihrer Kommilitonen hatte, mit konservativen und kleinmütigen, aber hübschen und bewundernden Söhnen der Oligarchie und ihrer Diener, so hatte das nichts zu bedeuten. Sie war jung, voller nervöser Energie, und sie nahm die Pille. Man kann die Treue auch im Geist bewahren, vor allem dann, wenn man im Augenblick des Orgasmus die Augen schließt und Tristão denkt. Aus ihrem Leben verbannt, in seiner Abwesenheit keiner Veränderung unterworfen, war er unverletzlich geworden, ein unberührbarer Teil ihrer selbst, so heimlich wie die ersten sexuellen Regungen eines Kindes.
    Ihr Vater, dem alles, was er sah, nur zu bestätigen schien, daß sie sich mit ihrem Schicksal abgefunden hatte, beglückwünschte sich zum Erfolg seiner Strategie. Er kam und ging in der riesigen Wohnung wie eine seltsame Schnecke, seine Haut bläulich und dünn, seine Lippen bleich lächelnd und seine kahl werdende Stirn über einen strengen Blick gewölbt, in den sich vages Wohlwollen mischte wie bei den Nonnen, die Isabel und Eudóxia in der Schule unterrichtet hatten. Er hatte um einen anderthalbjährigen Heimaturlaub nachgesucht, ehe er seinen nächsten Botschafterposten in Afghanistan antrat. Bei Nacht konnte sie ihn hören, wie er in seinem Schlafzimmer Persisch und Paschtu übte – so islamisch klang die tiefe, sich wiegende, manchmal gutturale Stimme, daß sie ihn sich mit Turban und Kaftan vorstellte, um einen Teppich feilschend oder im Begriff, Lästerern des wahren Glaubens ihr Todesurteil zu verkünden. In aller Bescheidenheit erläuterte er ihr, daß keine der beiden Sprachen allzu schwierig sei, gehörten sie doch allesamt zur indoeuropäischen Sprachfamilie. Gelegentlich nahm er sie zu einem Konzert oder einer Theateraufführung aus dem kargen kulturellen Angebot der Hauptstadt mit. Doch immer wieder kam es vor, daß sie tagelang kaum ein Wort miteinander sprachen, so sehr war jeder von seinen eigenen Angelegenheiten und Bekanntenkreisen absorbiert. Isabel verfolgte ihren Studiengang wie unter Trance, unter dem Bann eines Schwurs, der nicht unter dem Zeichen des Kreuzes, sondern dem zweier grauer Pistolenläufe gegeben worden war. Sie wollte nicht die Ursache von Tristãos Tod sein, und so hielt sie ihn in ihrem Herzen sicher verschlossen wie einen Gefangenen in seiner

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