Brasilien
schmalen Tunnel eines Entweder-Oder reduziert hatten. Die Stimmung war bei allen sehr gedrückt geworden, gepfercht in den engen Laufgang ihrer Lage. «Wenn ich zu meinem Vater gebracht werden soll», sagte Isabel sehr ruhig, «dann brauche ich meine Kleider. Sie sind im Hotel. Wenn wir um zehn Uhr am Flughafen sein müssen, dann bleibt uns keine Zeit zum Essen. Wir müssen gehen», sagte sie zu ihrem neuen Begleiter, dem väterlichen, in graues Tuch gehüllten Abgesandten jener Macht, die sie geprägt hatte.
«So ist es», sagte César, hoch befriedigt. Zu Polidora: «Wir bedauern. Die feijoada duftet köstlich. Mein junger Gefährte hat einen gesunden Appetit und wird sich meines Anteils annehmen.» Zu Chiquinho: «Du hast die Hälfte deiner Belohnung in der Tasche. Die andere Hälfte hängt von deiner weiteren Mitarbeit und Gastfreundschaft ab.» Zu Tristão: «Mach’s gut, mein Freund. Es wäre ein Unglück für einen von uns beiden, wenn wir uns jemals wiedersähen.» Zu Isabel: «Kommen Sie, mein Fräulein. Wie Sie selbst sagen, wird das Flugzeug nicht warten.»
Isabel beugte sich hinunter und gewährte Tristão einen trägen Kuß, weich wie eine Wolke und warm wie der Kuß der Sonne, der sagte: Glaub an mich.
Aber konnte er ihr trauen? Seine Frau wirkte, als er sie nun von hinten sah, auf unheimliche Weise entspannt am Arm ihres so seriös erscheinenden Entführers. Sie trug ein freches, weder förmliches noch allzu legeres Kleid mit kleinen roten Blumen auf marineblauem Grund und hatte, beim Ankleiden im Hotel, zwei oder drei Alternativen anprobiert und verworfen, ehe sie diese perfekte Entsprechung zu seiner Leinenhose und dem zwanglosen, aber doch mit Umschlagmanschetten versehenen Hemd gefunden hatte – respektvoll elegant, ohne es allzusehr zu betonen. Es sollte ihre erste gemeinsame Abendeinladung als offizielles Paar sein, zu Besuch bei einem ihrer Schwäger. Vielleicht hatten sie zuviel gewollt, und zu schnell.
Als Isabel fort war, fühlte sich Tristão weniger befangen, und sobald Polidora ihren Topf mit der gepfefferten feijoada aufgetragen hatte, entkrampfte sich die Stimmung bei allen. Virgílio legte sein graues Jackett ab und steckte seine Pistole in das Schulterhalfter, während Chiquinho die hohen Cocktailgläser abräumte und Antárctica-Bier in Flaschen auf den Tisch stellte. Tristãos kleine Nichte und sein Neffe, Esperança und Pacheco, kamen aus dem Dunkel der Straßen herein – zwei toastbrotbraune, grauäuige kleine Knirpse von drei und fünf Jahren –, und die vorlaute Unschuld der Kinder steckte die Runde bald mit Heiterkeit an. Ihre Blicke saugten sich an Virgilios Pistole fest, deren Griff aus dem Halfter ragte wie das Hinterteil eines Tieres, das gerade in seinen Bau schlüpft. Der pistoleiro erkannte die Phantasie der Kinder und spielte mit, schob die Pistole hin und her wie ein huschendes Tier, dessen Angst er grimassierend, mit einem Klappern seiner krummen Zähne imitierte: «Fora! Opa! Dentro! Bom.»
Als die Bierflaschen geleert waren, trat klarer cachaça an ihre Stelle, und die Tischrunde der vier Erwachsenen überbot sich mit Witzen über die Welt außerhalb der vier dünnen Wände und des zerbrechlichen Dachs – Witze über die anderen, die Reichen, die poderosos, die Gringos, die Argentinier, die Paraguayaner, die deutschen und japanischen Farmer in der Região Sul mit ihren lächerlichen Akzenten und ihren sturen, puritanischen, arbeitswütigen Gebräuchen. Der wahre Brasilianer, da waren sie sich jubilierend einig, war ein unverbesserlicher Romantiker – impulsiv, weltfremd, vergnügungssüchtig und doch gleichzeitig idealistisch, mutig und vital.
Tristão fühlte sich benommen, als er zu Bett ging. Die Winkel des Raumes wankten und kippten ganz ähnlich, wie sie es unter dem magnetischen Druck der Pistolen getan hatten. Er wurde im Kinderzimmer einquartiert, während die Kinder ins Bett der Eltern umziehen mußten. Tristão hatte ein Kinderbett für sich, und Virgílio schlief in dem anderen, das quer vor die Tür gestellt wurde, um eine Flucht zu vereiteln. Das einzige Fenster des Zimmers war außen mit Stäben vergittert, zum Schutz vor den Einbrechern, die der langsam wachsende proletarische Wohlstand dieses Viertels in Scharen anzog.
Seit vielen Wochen war Tristão nicht mehr zu Bett gegangen, ohne daß Isabel neben ihm lag. Ihre Existenz war von der seinen kaum noch unterscheidbar geworden. Sie brannte in ihm wie eine pfefferscharfe Schicht an seiner
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