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Brasilien

Brasilien

Titel: Brasilien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Updike
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Magenwand, eine gleißende Sehnsucht, die ihn bei lebendigem Leibe verzehrte. Lebendig zu sein, so erkannte er, ist etwas Relatives und nicht jeden Preis wert. Es war nicht den Preis von Isabels Abwesenheit wert – das Fehlen ihrer Fotze, die sich feucht über seine Wurzel stülpte, ihrer Stimme, die in sein halb hinhörendes Ohr plapperte, der warmen Wolke ihrer Lippen, die sich auf seine niedersenkten und ihm sagten: Glaub an mich. Sie war nicht der Tod, aber ihre weiße Haut hatte die Reinheit des Todes. Er unterdrückte seine Tränen, um seinen neuen Zimmergenossen nicht zu wecken. Er begann, Pläne zu schmieden, und landete in Träumen.

9. Brasília
    Um Mitternacht vom Flugzeug aus gesehen, zeichnen Brasílias Lichter den Umriß eines Flugzeugs nach, mit langen, gekrümmten Flügeln auf der riesigen, schwarzen Schiefertafel von Brasiliens Landesinnerem. Die Stadt scheint auf dem Nichts zu schweben wie ein Sternbild, bis sie zu rotieren beginnt, als rollte sie am unveränderlichen Standpunkt des Betrachters vorbei, um selbst zu starten. Man setzt mit einem Flüstern auf, als wäre man nicht auf festem Boden gelandet. Die Luft im Flughafengebäude ist kühl, und das Gedränge der Ankommenden und Abfliegenden verblüfft zu dieser späten Stunde. Doch dies ist ein Ort, den viele aufsuchen müssen, auch wenn nur wenige bleiben wollen.
    César dirigierte das Taxi zur Wohnung von Isabels Vater an der Eixo Rodoviário Norte, in einer der mächtigen, senkrechten Betonscheiben, in der die höheren Beamten der Regierung residierten. Ihre Erinnerungen an Brasília reichten in ihre Kindheit zurück, als sie mithörte, wie Onkel Donaciano und ihr Vater über Präsident Kubitscheks Entschluß debattierten, sein Wahlkampfversprechen einzulösen und eine Hauptstadt im Landesinneren zu bauen. Es ist ein alter Brasilianischer Traum, hatte ihr Vater gesagt – so alt wie der Traum von der Unabhängigkeit, bis zur Inconfidência Mineira reicht er zurück. Dann laßt ihn ein Traum bleiben, erwiderte ihr Onkel – wenn wir alle unsere Träume verwirklichen, wird die Welt zu einem Alptraum. Was von dem Projekt gemunkelt wurde, erzeugte in der kleinen Isabel ein ganz mulmiges Gefühl; ihr war, als wollte man ihr Herz von seinem angestammten Platz losreißen oder als hätte ein Erdbeben ihr schönes Rio ins Meer hinaus versetzt. Etwa ein Jahr später landete sie dann, nach einem schlingernden, holprigen Flug in einer Piper Cub, zusammen mit ihrem Vater zwischen Bergen aus frischem, rotem Abraum und Tausenden von armen Tagelöhnern aus dem sertão, die wie ein Ameisenheer schufteten, um einen unergründlichen Plan wirklich werden zu lassen. Als sie und ihr Vater ihren nächsten Besuch abstatteten, ragten die Skelette von Gebäuden aus der Erde, riesenhafte, gelbe Lastwagen donnerten wichtigtuerisch auf unbefestigten Pisten hin und her, und der eingesunkenen Rundform der Kathedrale war eine Dornenkrone aus Beton gewachsen. Und jetzt war aus dem Plan Realität geworden, die steinige Hauptstadt war errichtet und wartete darauf, daß ihr, wie einem schönen Standbild, Leben eingehaucht wurde. Noch immer herrschte der schwarze Raum des sertão, das leere Schweigen der menschenlosen Nacht unter und über den geometrischen Lichterketten, dem strahlend auf die Tafel gestrichelten Diagramm.
    Die Wachtposten am Eingang des Appartementhauses waren von Isabels Ankunft unterrichtet, denn beide – zwei kleine Männer mit indianisch hohen Wangenknochen und der ledernen Zähigkeit von Landarbeitern – waren wach und trugen saubere, olivgrüne Uniformen. Trotzdem bestand César darauf, Isabel in den Aufzug und hinauf in das Stockwerk zu begleiten, in dem die Suite ihres Vaters ihre Flügel ausbreitete wie eine Miniaturausgabe der Stadt. Als César sie und ihr Gepäck an den großgewachsenen, gebeugten Diener übergab, der ihnen die Tür geöffnet hatte, zog er ihre weiße Hand an seine Lippen und küßte die Rücken ihrer Finger, die krumm und kalt waren vor Ablehnung. «Sei brav und tu, was dein Papa sagt», riet er ihr liebevoll. «Brasilien hat wenige Führer; Portugal hat nicht soviel Disziplin und Strenge in die Neue Welt gebracht wie Spanien. Wir waren nicht grausam wie die Spanier, sondern nur brutal, weil wir zu faul waren, um eine Ideologie zu haben. Die Kirche war zu nachsichtig. Selbst die Klöster waren Bordelle.» Was die Zusammenfassung einer Vorlesung war, vom Professor am Ende der Stunde aus Zeitnot gerafft, die er ihr während des

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