Brasilien
einander, würden sie sparsamer mit ihrem Geld umgehen als in São Paulo.
Der Bus schüttelte sie beide wach, als er unter Scheppern und Schlingern in einer kleinen Stadt zum Halten kam, in der eine einzige Kirche ihr einsames, nacktes Kreuz über eine verschnörkelte Fassadenkulisse reckte, auf deren Simsen angeschlagene Heilige aus Stein gestikulierten. An der zusammengewürfelten Ladenzeile neben der Haltestelle hing kein einziges neueres Plakat aus, nur ein farbloses Mosaik aus verblichenen älteren; die einzige Spur von Leben auf der ausgestorbenen Straße war eine alte Frau, die mit einer Holzkohlenpfanne vor einer weißgekalkten Mauer in der prallen Sonne hockte und geröstete Maiskolben feilbot. Ihr schmuddeliges Kleid prahlte mit einem Oberteil aus Spitze, aber auf dem Kopf trug sie eine Schirmmütze aus Plastik, die mit dem Namen einer Biermarke, Brahma, bedruckt war. Die Dachziegel in dieser Stadt wirkten brüchig, aus Reih und Glied gedrückt vom Gewicht eines gleichgültigen Himmels, dessen Blau so knallig war wie frisch aufgetragene Farbe.
Je tiefer sie ins Landesinnere vordrangen, desto weiter sanken sie zurück in der Zeit. Immer weniger Autos machten dem Bus die immer schmaler werdende Schotterpiste streitig. Am Straßenrand waren Frauen und Männer auf Eseln unterwegs, deren Augen endlos lange Wimpernhaare hatten, wie Puppen. Die Autos zeigten kantigere Formen, Trittbretter und die wulstigen, gebogenen Stoßstangen einer vergangenen Epoche, als es in Brasilien noch keine eigene Autoindustrie gab und alte, zusammengeflickte Veteranen aus Nordamerika importiert wurden. Ein Stück weit abseits wirbelte eine schwarze Speerspitze, die sich als Lkw mit offener Ladefläche entpuppte, einen ockergelben Staubfächer auf, und ganz in Leder gekleidete vaqueiros verschmolzen im Sonnenglast mit den Pferden, auf denen sie ritten, und den Rinderherden, die sie hüteten. Die Landschaft selbst erinnerte, wo nicht stacheldrahtumzäunte Felder die hügelige Hochebene unterbrachen, an eine gelblichbraune Tierhaut, unempfindlich gegen Kratzer, wasserabweisend, gezeichnet von Narben und bleichen Flecken, an denen das Fell bis auf eine ausgedörrte Staubschicht abgewetzt war. Neugierig starrten Tristão und Isabel in diese Monotonie von Goiás hinaus, bis nach einer Weile ihre Augen brannten und sie sich wieder mit sich selbst beschäftigten. Beide hatten sie ein flaues Gefühl im Magen – vor Hunger und aus Angst vor dem, was sie sich aufgeladen hatten.
«Alles ist vergeben, an die Herden und an ihre Besitzer», bemerkte Tristão. «Nirgends sehe ich ein Plätzchen für uns, so riesig dieses Land auch ist.»
«Wir sind erst ein paar Meilen unterwegs», beruhigte ihn Isabel. «Brasilien ist grenzenlos, mit grenzenlosen Möglichkeiten.»
Doch in der Bezirkshauptstadt Goiânia, die sie nach sechs Stunden erreicht hatten, lenkte sie eine unentrinnbare Geometrie der Straßenführung – kreisförmige Straßen, durchnumeriert und namenlos – immer wieder zum Busbahnhof an der Avenida Anhanguera zurück. Schlafmangel und Hunger machten Tristão zu schaffen. Isabel hatte die beiden blauen Koffer mit vielen Kleidern und anderen Schätzen vollgestopft, und sein Rücken unter dem orangeroten Rucksack ächzte unter den Gewichten. Isabel kam ihm wie ein tonnenschwerer Edelstein vor, der an seinem Hals hing. Auf der Straße starrten kupferbraune, vom cachaça benebelte Landarbeiter dem Mädchen nach, das so weiß war und einen so schwarzen Mann an seiner Seite hatte. Je weiter sie sich von der Küste entfernten, desto spürbarer wurde der Anteil des Indioblutes. Tristão fühlte sich wie auf dem Präsentierteller, und Goiânia hatte genug Ähnlichkeit mit Brasília – ein weiteres abstraktes Muster, das die Planer einer leeren Wildnis aufgeprägt hatten –, um Isabels Vater gefährlich nahe scheinen zu lassen. Dem jungen Paar war schlecht vor Hunger, doch die Gaststätten, die es sich näher ansah, schreckten es mit rauhen Ausbrüchen von Männerlachen, dem scharrenden Geräusch von Sporen auf hölzernen Bodenbrettern und den intensiven Duftwolken von gegrilltem Rind und billiger pinga ab, die aus den Türen drangen. Endlich entdeckten sie auf der Avenida Presidente Vargas das Restaurante Dourado, das sich auf frischen Fisch aus den Flüssen und Seen der Umgebung spezialisiert hatte. Es gehörte einem Ukrainer mit einer Glatze und etlichen stählernen Stiftzähnen im Mund, der an seinen neuen Gästen Gefallen fand, weil sie
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