Brasilien
Exoten waren wie er. Die dourada sei besonders köstlich, erläuterte er ihnen, wenn sie mit einer Sauce aus pürierten Bananen, gedünsteten Zwiebeln und geraspelten Zitronenschalen serviert werde. Zum Nachtisch empfahl er eine seltene Frucht namens mari-mari und setzte sich zu ihnen, um in der gebotenen Ausführlichkeit zu schildern, welches Schicksal ihn hierher verschlagen hatte. Es war eine verwickelte Geschichte, in der ein längst vergangener Krieg eine Rolle spielte: Er war in Gefangenschaft geraten, als die Deutschen seine Heimat überfielen, und gezwungen worden, einem Sonderkommando beizutreten, das in einer Reihe von Lagern Dienst tat, über deren Zweckbestimmung er sich nicht näher ausließ. Als die Russen in Polen einmarschierten, ergriff er die Flucht, weil ihm klar war, daß er sonst als Verräter und als Kriegsverbrecher hingerichtet worden wäre. «Ich hatte zuviel Geschichte miterlebt», meinte er. Schließlich war er in Brasilien gelandet – «es ist ein glückliches Land», sagte er zu ihnen, «es hat unergründliche Taschen und ein kurzes Gedächtnis». Als er lachte, blitzten seine altmodischen Stiftzähne auf wie eine Schublade voller Messer.
Nicht mehr hungrig, mit frisch erwachten Lebensgeistern gingen Tristão und Isabel in einen Laden in einer der gebogenen Straßen, die sich Rua 82 nannte, und kauften sich jeder ein Paar Cowboystiefel mit spitzem Vorderteil und aufwendig verzierten Schäften. Das gastfreundliche Restaurant als gutes Omen nehmend, bestiegen sie den Nachtbus, der in nördlicher Richtung nach Goiás Velho und in die Dourada-Berge fuhr.
Das Heulen des ersten Gangs scheuchte die Liebenden aus einem unruhigen, durchgerüttelten Schlaf auf. Im ersten Licht des Morgengrauens quälte sich der Bus auf einer Straße, die diesen Namen nicht mehr verdiente, eine Steigung hinauf. Zweige von dornigem Buschwerk schleiften zu beiden Seiten an den Busfenstern entlang. Das Land war nicht mehr eingezäunt, so daß der Bus halten mußte, um Herden von wandernden Zebus mit ihren Hängeohren und den seltsamen Schulterhöckern vorbeizulassen. Ein ganzes Wegstück lang saßen sie hinter einem Ochsenkarren in der Falle, der hoch mit Maiskolben beladen war, die noch in ihren Blättern steckten, und von einem etwa zehnjährigen Jungen geführt wurde, der mit einer Gerte und einem sich in seine Bestandteile auflösenden Strohhut ausgerüstet war. Hier und da schälte die Morgendämmerung das weiße Mauerwerk von einstöckigen ranchos aus den Hügelflanken, und noch weiter oben waren erdfarbige Hütten und winzige Rodungsinseln zu erkennen, auf denen das Flickenmuster von Maniok- und Bohnenpflanzungen vom Kampf der Menschen gegen Palmen, wilden Wein und dornige quipas und opuntias kündete. Aufwärts und abwärts, jedoch häufiger bergauf, holperte der Bus, und Isabels Kopf lehnte mit der bleiernen Schwere der Mutlosigkeit an Tristãos Schulter. Kurz vor Mittag erreichten sie eine Siedlung an einem Bergbach; sie bestand aus wenig mehr als einem Gasthaus, einem Laden und einer Kirche, deren Tür verschlossen war.
«Wo sind wir?» fragte Tristão den Fahrer, nachdem alle Fahrgäste, wie auf ein Signal hin, das er als einziger überhört hatte, ausgestiegen waren und sich auf den bläulichen Pflastersteinen des Marktplatzes verstreut hatten.
«Curva do Francês», antwortete der Fahrer. «Die Straße endet hier.»
Von den anderen Fahrgästen war fast nichts mehr zu sehen. Einige waren abgeholt worden, und die wiedervereinten Paare hatten sich, nach dem Begrüßungskuß und dem Aufteilen der zahllosen Bündel, die der reisende Partner aus der Ferne mitgebracht hatte, auf den nur andeutungsweise in das Dickicht getrampelten Weg zu ihren unsichtbaren Hütten gemacht. Isabel war von der langen Fahrt benommen; ihr war schlecht, und die Düsternis der Lage, in der sie sich befand, verschlug ihr die Sprache. Tristão konzentrierte seine ganze Energie auf die Notwendigkeit, für sie beide zu denken und zu handeln. Er mußte darauf achten, daß den gestohlenen Wertsachen, die sie in ihrem Gepäck versteckt hatten, und seinem Packen Cruzeiros nichts passierte. Vielleicht reichte der lange Arm der Inflation nicht bis in diesen Winkel des sertão.
Das Gluckern und Rauschen des sich schlängelnden Bergbachs erfüllte die Luft, die von dem auf allen Seiten herandrängenden Wald und einer Wolkenschicht verdüstert wurde, hinter der die Sonne so schwach leuchtete wie ein Mond – ein verwaschenes Wundmal am
Weitere Kostenlose Bücher