Bratt, Berte - Marions gluecklicher Entschluss
hörte intensiv zu. Alles, alles mußte ich mir merken, alles mußte ich wissen; nachher mußte ich mit Tante Edda darüber sprechen: Wir mußten dem Unglück auf den Grund kommen, den Hintergrund für Marions »Dummheiten« kennenlernen.
Marion war das einzige Kind von Herrn Selsings jüngerem Bruder.
Mit drei Jahren verlor sie die Mutter. Als sie acht war, starb ihr Vater an den Folgen eines Autounfalls. Marion kam zu dem Onkel, ihrem Vormund. Ganz verstört, verweint und untröstlich über den Tod ihres Vaters, zog sie in sein Haus. Alles war neu und fremd für sie:
Stadt, Schule, sogar Onkel und Tante.
»Ich bitte Sie, überzeugt zu sein, daß meine Frau und ich uns unserer Pflichten bewußt waren«, sagte Herr Seising. »Wir waren es meinem Bruder schuldig, seinem Kind Werte fürs Leben zu vermitteln, Pflichtgefühl, Gehorsam, Ehrlichkeit, eine anständige Gesinnung. Wir haben wirklich keine Mühe gescheut! Das Kind bekam alles, was es brauchte: ein geordnetes Zuhause, eine gute Schulbildung, meine Frau sorgte, daß Marion gut zu essen bekam und tadellos gekleidet war. Es wird mir immer ein Rätsel bleiben, wie Marion auf diese. diese.«
Vati half ihm aus der Verlegenheit.
»In diese schlechte Gesellschaft kam, meinen Sie?«
»In diese Bande! Wie in aller Welt gelangt ein guterzogenes Mädchen in eine solche Gesellschaft? Wir haben natürlich verlangt, daß sie abends rechtzeitig nach Hause kam. Durch einen Zufall entdeckte meine Frau, daß sie ins Bett ging - und dann, wenn alles still im Haus war, wieder aufstand und hinausschlich. Damals war sie fünfzehn!«
Herr Seising machte eine Pause, räusperte sich und nahm die Zigarette, die Vati ihm anbot. Dann sprach er weiter, und was er jetzt erzählte, war einfach zum Weinen.
Marion war bis dahin ein verschlossenes, schweigsames Mädchen gewesen. Nun wurde sie mit einemmal aufsässig und frech. Einmal hatte er sie verprügelt, danach wurde es noch schlimmer. Sie trieb sich in Jazzkellern herum; wenn sie eingesperrt wurde, rückte sie von zu Hause aus, kletterte spätabends aus dem Fenster und blieb bis zum Morgen weg. Eines Tages kam ein Brief aus der Schule. Marion wurde wegen Diebstahls weggeschickt. Sie kam in eine andere Schule; dort machte sie die Mittlere Reife.
»Dann wollte sie ins Ausland. Das kam natürlich nicht in Frage. Wer schickt eine Sechzehnjährige allein ins Ausland? Wir schickten sie in eine Haushaltsschule. Das ist doch für jedes junge Mädchen notwendig.« Ich nickte.
Nun hatten Onkel und Tante gehofft, sie seien über den Berg. Marion ging brav in ihre Schule und war wieder das stille, wortkarge Mädchen. Und dann kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel diese Geschichte mit der Polizei.
»Für einen unbescholtenen Mann ist es kein Vergnügen, plötzlich zu erfahren, daß seine Pflegetochter an Diebstählen und sinnlosen Zerstörungen beteiligt ist«, sagte Herr Seising. »Für uns war es bitter: für mich im Geschäft und für meine Frau zu Haus in der Nachbarschaft - alle haben hinter unserem Rücken die Köpfe zusammengesteckt. Es war schwer auszuhalten. Ich habe aus meiner eigenen Tasche den Schaden bezahlt, den Marion nachweislich verursacht hatte, und mit meinem guten Namen dafür gebürgt, daß dieser Unfug nun ein Ende haben würde. So kam sie glimpflich davon, und mir bleibt leider nur eines übrig: Ich habe mich mit einem Heim für schwererziehbare Mädchen in Verbindung gesetzt.«
»Und als Marion das erfuhr, ist sie ausgerückt«, sagte Vati. Es trat eine Pause ein. Dann sagte Vati mit seiner guten, ruhigen Stimme, mit dieser Stimme, die ich liebe:
»Herr Seising, das unergründliche Schicksal hat Marion zu uns verschlagen. Fürs erste muß sie hierbleiben. Der Arzt hat ihr strikt verboten, die nächsten Tage aufzustehen. Nun möchte ich Ihnen einen Vorschlag machen: Wir wohnen auf einer friedlichen kleinen Insel. Wir haben keine Jazzkeller, keine Halbstarken. Hier im Haus sind wir eine fröhliche kleine Gesellschaft. Wie wäre es, wenn wir Marion - sagen wir für einen Monat - hierbehielten? Natürlich würden wir immer mit Ihnen in Kontakt bleiben. Das Mädchen braucht bestimmt eine neue Umgebung, und hier, glaube ich, wäre sie gut aufgehoben.«
Herr Seising sah Vati ungläubig an, seine Augen waren voll Erstaunen.
»Entschuldigen Sie eine Frage, Herr Dieters: Warum in aller Welt wollen Sie das auf sich nehmen?« Vati lächelte.
»Ja, warum? Ich weiß es selber kaum!«
»Ich weiß es, Vati«, rief ich. »Weil
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