Braut der Schatten
logisch denkenden Dakier, denn Instinkte folgten nur selten der Logik.
Ja, sein Vater hatte ihm aufgetragen, ein Vorbild zu sein. Trehan wagte allerdings ernsthaft zu bezweifeln, dass er damit gemeint hatte, er solle ein Vorbild dafür abgeben, wie man es nicht machen sollte.
»Onkel Trehan?«, rief eine sanfte Stimme.
Als er sich zur Quelle dieser Stimme translozierte, sah er sich seiner »Nichte« Kosmina gegenüber, die neben seiner Tasche stand. Ihre Miene wirkte besorgt.
Sie und ihr Bruder Mirceo waren die letzten Nachkommen des Hauses Castellan.
Das Herz des Königreichs.
Kosmina schien aus lauter Gegensätzen zu bestehen. Sie war vollkommen unschuldig, was Liebesangelegenheiten betraf, und schrecklich schüchtern. Ihre Kleidung war immer züchtig; heute trug sie beispielsweise ein traditionelles Gewand, das bis zum Boden reichte und dessen Kragen beinahe ihr Kinn berührte. Doch zugleich war sie eine Meisterin im Umgang mit der Waffe – und eine gnadenlose Mörderin.
Trehan hatte sie ausgebildet. Aber vermutlich hatte jeder der Cousins insgeheim an ihrer Ausbildung mitgearbeitet.
Es gibt noch so viel, was ich sie lehren möchte.
Doch nach dem heutigen Tag würde er sie vielleicht niemals wiedersehen. Während die männlichen Cousins Reisen außerhalb Dakiens unternahmen, hatte Kosmina seine steinernen Grenzen noch nie überschritten.
»Onkel Viktor sagte, du würdest fortgehen.« Sie spähte scheu unter blonden Ponyfransen zu ihm auf.
»Sei beruhigt. Vielleicht komme ich schon bald wieder. Ich gehe nur fort, um einige Erkundigungen einzuholen, wie so oft.« Er runzelte die Stirn. »Mirceo hat vermutlich keine Ahnung, dass du hier bist?« Dakianos pflegten für gewöhnlich keinen privaten Umgang – es sei denn, ein Kampf stünde bevor. Das Letzte, was er jetzt brauchen konnte, war ein wutentbrannter Mirceo, der mit dem Schwert in der Hand hier auftauchte, um das Leben seiner Schwester zu verteidigen.
Als ob ich ihr je etwas antun könnte.
Trehan kniff sich mit Daumen und Zeigefinger in die Nasenwurzel. Misstrauen und Angst verfolgten seine Familie wie ein Fluch.
Wenn es nur so einfach wäre.
Flüche kann man brechen.
»Ich sage ihm immer wieder, dass du mir bestimmt nichts tust. Stelian ist der Einzige von uns, den du wirklich töten würdest.«
»Ach ja?« Trehan war angesichts der Ernsthaftigkeit ihrer Überzeugung amüsiert.
Sie fuhr mit der Stiefelspitze ein Muster im Teppich nach. »Du hast deine Braut gefunden?«
»Das habe ich.«
»Wirst du jetzt Kinder haben? Ich wäre schrecklich gerne Tante.«
Er atmete heftig aus.
Kinder.
Als er noch jünger gewesen war, hatte er sich nach seiner Braut gesehnt, nach einer eigenen Familie. Doch als ein Zeitalter nach dem anderen dahinhuschte, hatte er die Hoffnung verloren.
Jetzt konnte er sich mit einer anderen Frau paaren und Nachwuchs zeugen. Aber Kinder mit Bettina …
Sie würden Dakien niemals kennenlernen und niemals das Haus der Schatten zu neuem Leben erwachen lassen.
»Ich weiß nicht, Kosmina. Meine Braut hat gegenwärtig nicht gerade viel für mich übrig.«
Sie blickte mit zusammengezogenen Brauen zu ihm auf. »Dann kennt sie dich nicht.«
»Ich weiß dein Vertrauen zu schätzen.« Er konnte immer noch nicht fassen, dass seine Braut und seine Nichte im selben Alter waren.
Wenn irgendein lüsterner, jahrhundertealter Kerl nach Kosmina gieren würde, würde Trehan ihm in Zeitlupe seine inneren Organe herausreißen.
Und
trotzdem
gehe ich nach Rune?
»Ich werde mich um deine Wohnung und deine Sammlungen kümmern, damit alles genauso bleibt, wie es war, Onkel, nur für alle Fälle. Aber ich hoffe, dass du dir dort draußen ein neues Leben aufbaust.« Ihre hellblauen Augen bekamen einen sehnsüchtigen Glanz. »Ich träume jeden Tag davon, diesen Ort zu verlassen.«
Es war ihr verboten, das Königreich zu verlassen. In diesem Punkt stimmte er mit seinen Cousins überein. Es war einfach zu gefährlich.
»Ich stelle mir vor, dass es so ist, als ob man aufwacht, als ob man sich aus einem Sarg erhebt und endlich lebt.«
»Aus einem Sarg, Nichte?« Sie sprach von sich, als wäre sie tot. »Nun komm, so schlimm ist es doch wohl nicht. Das Leben hier ist gut. Du bist vor der Seuche sicher.« Diese Krankheit, die nur die Frauen ihrer Spezies befiel, war sogar für unsterbliche Vampire tödlich.
Tödlich – oder Schlimmeres.
»Gut?«, fragte sie leise. Sie zeigte auf seinen Lieblingsplatz. »Dann stell dir einmal vor, du sitzt dort und
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