Braut von Assisi
verscheuchte. Nur in jungen Jahren hatte er sich derartige Gefühle erlaubt, später jedoch den Leib gering geschätzt. Bruder Esel , so hatte der große Heilige den Körper mehr als einmal genannt, weil er immer wieder aufmuckte und besonders, was die Lust betraf, ungeahnte Schwierigkeiten bereiten konnte, anstatt der Seele getreulich zu dienen. Vielleicht verursachte ihm der Anblick seiner bleichen Nacktheit mit all ihren unübersehbar männlichen Attributen deshalb so starkes Unbehagen. Eigentlich lag die Zeit seiner fleischlichen Anfechtungen so weit zurück, dass er sich kaum noch an die zahlreichen Kämpfe und Niederlagen dieser schwierigen Phase zu erinnern vermochte. Mittlerweile war ihm Keuschheit zur Selbstverständlichkeit geworden. Alles, was er früher einmal durchlitten hatte, gehörte der Vergangenheit an und ruhte sicher verschlossen wie hinter einer armdicken Eichentüre – davon war er zumindest bis
vor Kurzem überzeugt gewesen. Doch mit einem Mal schienen alte Anfechtungen, die er längst überwunden geglaubt hatte, neu aufzukeimen.
Wie lange hatte er sich nicht mehr derart ungeniert betrachtet!
Seit die Ulmer Pforten hinter ihm ins Schloss gefallen waren, hatte so vieles in seinem Leben sich verändert, und ein untrügliches Gespür sagte ihm, dass es nicht allein mit der Verkleidung zu tun hatte, die er anlegen musste, um unterwegs unentdeckt zu bleiben. Es schien auch an dem Land zu liegen, durch das er ritt, und an den Menschen, die es bewohnten. Da war etwas in ihrem Gang, in ihren Blicken und Gebärden, das sein Herz und seine Sinne auf merkwürdige Weise anrührte und den gewohnten Schutz brüchig werden ließ. Was sie aßen, schmeckte fremdartig und faszinierend zugleich. Sogar die Luft kam ihm auf der Südseite der mächtigen Bergbarriere verändert vor, weicher, schmeichelnder, eine Liebkosung, nach der man sich sehnte, kaum hatte man sie einmal genossen, die sich aber gleichzeitig sündig und damit verboten anfühlte. Diese Reinigung im kalten Seewasser war also mehr als notwendig gewesen, in vielerlei Hinsicht.
War es nicht allerhöchste Zeit, sich endlich wieder in den zurückzuverwandeln, der er eigentlich war?
Den Rückweg zum Ufer legte er umso schneller zurück. Er rannte aus dem Wasser, als seien Dämonen hinter ihm her. Ohne sich um die bemoosten Steine unter seinen Sohlen zu kümmern, schlug er wie wild mit den Armen um sich, um die Kälte zu vertreiben, und rieb sich schließlich mit dem Mantel ab, den er nun nicht mehr brauchen würde.
Ihn, den dick gesteppten Gambeson, wie viele Ritter ihn trugen, dazu die Stiefel sowie die lederne Bruche, all das, was ihm auf dem beschwerlichen Weg über die Alpen gute
Dienste geleistet hatte, würde er Simone überlassen, dem Fischer mit dem gütigen Lächeln und den knotigen Gelenken, die ihm die tägliche Ausfahrt bei Wind und Wetter schon in mittleren Jahren beschert hatte. Seine bescheidene Hütte war ihm in den letzten Tagen Unterschlupf gewesen; bereitwillig hatte die Fischerfamilie mit ihm geteilt, was der See an Fängen hergab, bis sein Pferd endlich wieder so weit genesen war, dass er den Weiterritt riskieren konnte.
Der schönste und menschlich wärmste Aufenthalt auf seiner bisherigen Reise, auch wenn die enge Hütte feucht und die Verständigung schwierig gewesen war, denn er verstand nur ungefähr jedes siebte Wort dieser wohlklingenden Sprache, was ihn zunehmend bedenklich stimmte. Seine Mutter, aufgewachsen an den Ufern eines anderen großen Sees am Südrand der Alpen, hatte sie manchmal mit ihm gesprochen, als er noch ein Kind gewesen war und sie ihm Lesen und Schreiben beibrachte, doch das lag mehr als dreißig Jahre zurück, und er hatte das meiste davon inzwischen vergessen. Seine Hoffnung, sich im Lauf der langen Reise wieder darauf zu besinnen und freizulegen, was lange verschüttet gewesen war, hatte sich nur unzureichend erfüllt. Überall, wo er jenseits der Alpen Rast gemacht hatte und mit einfachen Leuten in näheren Kontakt gekommen war, klang ihr Dialekt eine Spur anders, und er konnte das mühsam Erinnerte oder erst vor Kurzem Erlernte kaum sinnvoll einsetzen.
Wie sollte er da seinen schwierigen Auftrag erfüllen, der ihn schon so viele Opfer gekostet hatte? Hätte er nicht besser von Anfang an demütiger sein und die Mission, die der Generalminister ihm übertragen hatte, freiwillig einem anderen Bruder überlassen sollen? Denn wie könnte ausgerechnet ein deutscher Bruder, der in einer weit
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