Braut von Assisi
Traumzustand versetzt, der über Monate anhielt.
Bis zu dem Zwischenfall mit dem Falken.
Was als vergnügliche Jagdpartie und festliche Zerstreuung am Morgen ihres Geburtstags begonnen hatte, sollte nur Stunden später in Tod und Tränen enden. Niemals würde sie vergessen können, mit welcher Grausamkeit er sein Falkenweibchen bestraft hatte, als es ihm den Gehorsam verweigert hatte. Das Bild des zerfetzten Vogelkörpers unter seinen genagelten Stiefeln verfolgte sie bis heute, und all seine wortreichen Beteuerungen, wie unendlich leid es ihm tue, für einen Augenblick die Beherrschung verloren zu haben, hatten ihr Herz nicht wirklich erreicht.
Seitdem betrachtete Stella ihn mit anderen Augen, und was sie da zu sehen bekam, ließ unangenehme Ahnungen in ihr aufsteigen. War sein Mund nicht eine Spur zu gebieterisch, der Blick zu kalt, die Miene oftmals so herrisch, als fühle er sich allen anderen heimlich überlegen?
Er schien zu spüren, was in ihr vorging. Jedes Mal, wenn ihr Misstrauen überhandzunehmen drohte, veränderten sich sein Ausdruck und sein Verhalten. Dann wurde Carlo plötzlich weich, fast demütig, begann erneut von seiner Liebe zu ihr zu sprechen und von einer gemeinsamen Zukunft, die in glühenden Bildern auszumalen er nicht müde wurde.
Ilaria hatte sich inzwischen auf den Rücken gedreht und schnarchte herzerfrischend. Nicht mehr lange, und sie würde sich die Augen reiben, um kurz danach mit beiden
Beinen in die Welt zu springen, die sich eigens für sie zu einem neuen Tag zu rüsten schien. Sie war eine Eroberin, eine »Frau der Tat«, wie sie manchmal selbst lachend sagte, die nicht lange überlegte, sondern handelte – basta!
Wenn sie doch auch nur mehr davon hätte! Gedankenverloren drehte Stella den Ring mit dem blutroten Granat an ihrem Finger hin und her, den Carlo ihr zur Verlobung angesteckt hatte. Anfangs hatte er perfekt gepasst und sie atemlos vor Glück gemacht, doch inzwischen schien er seltsamerweise zu eng geworden. Unter dem matten Goldband spannte die Haut, war rau und gerötet. Auf einmal erschien ihr der Ring wie eine Last. Sollte sie ihn einfach abstreifen?
Ein Gedanke, den sie sich schnell wieder verbat. Der Adelige und das Findelkind – klang ihre Liebesgeschichte nicht wie ein Märchen? Sie sollte dankbar sein, dass Carlo ausgerechnet sie erwählt hatte. Und nicht nur dafür galt es, in ihrer Lieblingskirche San Rufino einen neuen Satz dicker weißer Kerzen anzuzünden.
Denn natürlich schickte Vasco auch sie nicht mit leeren Händen in die Ehe. Er, weit über Assisi hinaus bekannt für seine großzügigen Schenkungen an die Kirche, vor allem aber für die herzliche Gastfreundschaft, mit der er reisende Ordensbrüder unter seinem Dach aufnahm, hatte auch für Stella eine stattliche Mitgift ausgesetzt, wenngleich natürlich deutlich niedriger als die für Ilaria. Eine Mitgift, die jeden geeigneten Kandidaten die ungewisse Herkunft der Braut vergessen machen konnte. Scham und eine unerklärliche Übelkeit hatten sie überfallen, als er ihr dies eines Abends in feierlichen, fast gestelzt anmutenden Worten mitteilte.
»Du hast jetzt neue Wurzeln, Stella, und trägst den Namen einer achtbaren Familie, das solltest du niemals vergessen.
Gewissermaßen ein Geschöpf ohne Vergangenheit, dafür mit stabiler Gegenwart und, wie es aussieht, sogar glänzender Zukunft. Keiner darf wagen, dich zu schmähen, sonst bekommt er es auf der Stelle mit Vasco Lucarelli und seinen streitbaren Vettern zu tun.«
Ob er insgeheim froh war, sie loszuwerden?
In seinen vernarbten Zügen hatte sie vergeblich nach einer Antwort gesucht. All die Fragen, die sich ihr schon auf die Zunge drängen wollten, schluckte sie lieber hinunter, denn seine beherrschte Miene verriet, dass sie ohnehin nur wieder gegen eine Mauer rennen würde wie schon die vielen Male davor. Eine rasche, gefällige Antwort, wie Vasco, der ihr gegenüber seltsamerweise niemals auf der Anrede »Papà« bestanden hatte, sie so gern erteilte, wenn er ein Thema zu beenden wünschte, wollte sie nicht hören. Sie war eine Sucherin, eine, die häufig und gerne grübelte und den Dingen am liebsten auf den Grund ging, bis ihre Liebe zur Wahrheit gestillt war.
Eine Eigenschaft, die im Haus Lucarelli nicht sonderlich hoch im Kurs stand, wie Stella immer wieder feststellen musste. Nicht einmal ihre geliebte Ilaria schien allzu viel davon zu halten, sondern war zufrieden, wenn nach außen hin alles so aussah, als gäbe es keinerlei
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