Braut von Assisi
erhielt sie das Armutsprivileg aus den Händen von Papst Innozenz IV., darin bin ich der Historie gefolgt, wenngleich die Umstände vielleicht anders ausgesehen haben mögen. Chiara wurde im Jahr 1255 heiliggesprochen – also bereits zwei Jahre nach ihrem Tod.
Generell sind die Viten mittelalterlicher Heiliger mit größter Vorsicht zu genießen. Beschönigungen, Auslassungen, Übersetzungen – all das gehörte damals zum »Geschäft«, und niemand hat sich daran gestört. Es galt, ein makelloses, ein perfektes Bild zu zeichnen, an dem alles »rund« war. Es sollte erheben und belehren. Mit der Wahrheit nahm man es nicht so genau.
CHIARA UND FRANCESCO
Waren sie nun ein Liebespaar?
In der Fachliteratur wird bis heute darüber gestritten. Von Francesco weiß man, dass er in seiner Jugend ein großer Lebemann war, dem Sinnenrausch jeder Couleur geradezu verfallen. Dann kam der extreme Umschwung vom Genießer zu dem Asketen, der seinen Körper in noch brutalerer Art und Weise knechtete als Chiara. Immer wieder wird berichtet, wie er vor allem sexuelles Begehren abtöten musste, wie er gegen die Verlockungen des Fleisches anzukämpfen hatte. Eine starke Libido hat er jedenfalls gehabt, das steht fest.
Sollte es da in jungen Jahren nicht zu näheren Kontakten zwischen seiner engsten Jüngerin und ihm gekommen sein? Chiara hat ihn leidenschaftlich und inniglich geliebt. Er war ihr Vorbild, ihr Freund, ihr Bruder – war er noch mehr als das?
Mich hat es sehr gereizt, diesen Faden weiterzuspinnen – mit all den dramatischen Entwicklungen, die sich daraus schließlich im Roman ergeben.
HERRIN ARMUT
Heute, in einer Gesellschaft des Überflusses, die sich allerdings mit dem Phänomen Armut zunehmend wird auseinandersetzen müssen, erscheint uns der Kampf von Francesco und Chiara um ein Armutsprivileg eigenartig. Damals jedoch war dies eine radikale Forderung, die erhebliche Sprengkraft besaß.
Dem armen Christus zu folgen und seinen Aposteln, die ebenfalls nichts besaßen, das bedeutete nicht mehr und nicht weniger als eine grundlegende Kritik an der reichen,
satt und korrupt gewordenen Herrschaftskirche. Wäre Papst Innozenz III. nicht so klug gewesen, die neue Gemeinschaft der Franziskaner in die Kirche zu integrieren – sie hätte in ihrer Radikalität (und wegen ihres Zulaufs) der Kirche möglicherweise weitaus mehr zusetzen können, als dies anderen »Ketzern« wie den Katharern oder Waldensern jemals gelungen ist.
KONSERVATIVE UND SPIRITUALE
Einen mörderischen Abt Matteo hat es historisch bezeugt nicht gegeben – wohl aber massive Richtungskämpfe zwischen den verschiedenen franziskanischen Fraktionen und Absplitterungen, die bisweilen mit größter Härte geführt wurden. Besonders der Zweig der sogenannten Spiritualen, der sich auf die Ursprünge des Ordens berief und gegen Hierarchie und Besitz sträubte, wurde bekämpft und verfolgt.
Johannes von Parma (1208 – 1289), seit 1247 Generalminister, sympathisierte zeitlebens mit dieser radikalen Richtung. Er versuchte den ursprünglichen Ideen Francescos wieder mehr Geltung zu verschaffen. Auch die päpstlichen Erklärungen der Ordensregel hielt er für überflüssig und ließ allein das Testament des Heiligen gelten. 1257 zwang ihn Papst Alexander zum Rücktritt, was ihm alles andere als ungelegen kam. Er zog sich nach Greccio zurück, wo er dreißig Jahre in einer Klause verbrachte.
IM ZEICHEN DES TAU
Das τ – Zeichen ist sehr alt und in verschiedenen Kulturen der Welt bekannt. Es drückt in seiner Urform aus, dass Leben
sich in zwei Richtungen bewegt, also Tiefe und gleichzeitig Weite besitzt.
Es ist ein Buchstabe des griechischen beziehungsweise der letzte Buchstabe des hebräischen Alphabets. Es hat in der Bibel eine besondere Bedeutung und in der Kunstgeschichte eine ganz besondere Tradition.
Franziskus liebte das Zeichen und verwendete es oft. Er malte es auf Häuser, Wände und Bäume. Er segnete Menschen damit und unterschrieb seine Briefe damit. Für ihn war es das Zeichen des Erwähltseins, wie es im Buch des Propheten Ezechiel heißt: dass Gott seinen Engel sandte, um auf der Stirn aller Getreuen dieses Heilszeichen einzuprägen (Ez. 9,4). Bevor das Strafgericht über die Stadt Jerusalem hereinbricht, lässt der Herr die Gerechten mit einem τ auf der Stirn zeichnen. Sie sollen von den Mächten der Zerstörung bewahrt bleiben. Ähnlich werden, so Franziskus, am Ende der Zeiten alle, die zu Christus gehören, mit diesem Siegel gezeichnet
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