Brechreizend - Die fiesesten Reiseziele der Welt
Peter den Turm längst geentert.
Ich folgte ihm und entdeckte, dass er eine Steintreppe hinaufstieg, die so dick mit altem, vertrocknetem Taubenkot verschmutzt war, dass es sich anfühlte, als ginge man über eine Schicht Cornflakes. Zögernd kraxelte ich hinter ihm her, während ich typische Spielverderber-Fragen stellte wie:»Hältst du den Turm für sicher?«, oder: »Und wenn das Ding jetzt einstürzt?«
Peter beachtete mich nicht und stapfte weiter, bis die Steintreppe endete und in eine Metalltreppe überging. Da ich mich im Verlauf unserer Beziehung bereits daran gewöhnt hatte, folgte ich ihm bis auf eine Plattform in der Turmspitze in etwa zwanzig Metern Höhe. Ich stand unter einer von vier riesigen Glocken, die alle mit einer dicken Schicht Vogelkot bedeckt waren und sich unmittelbar über unseren Köpfen befanden. Peter hatte sich auf eine der breiten Steinfensterbänke gehievt und untersuchte das Gerüst an der Außenseite – ein Gerüst unbekannter Qualität, über dessen Alter und Sicherheit wir nichts wussten.
»Komm rauf und mach ein Foto von mir«, forderte Peter mich auf und zeigte auf das wacklige Gestänge. »Die Sicht ist fantastisch.«
Doch ich weigerte mich – zum allerersten Mal. Nein, ich würde ganz bestimmt nicht auf das Fenstersims klettern. Und nein, ich würde auch kein Foto machen. Ich wollte an Ort und Stelle bleiben, auf der kotverklebten Metallplattform unter der großen Glocke, und ich war auch nicht bereit, ihn auf das Gerüst klettern zu lassen. Ich hatte nicht die geringste Lust, meinen frischgebackenen Ehemann in Einzelteilen draußen vom Kirchhof zu kratzen. Nein, niemand würde irgendwohin klettern.
Und dann blickte ich auf meine Uhr. Es war 11:59 Uhr. In Windeseile beschloss ich, dass ich doch irgendwohin klettern wollte, und zwar, um genau zu sein, die Treppe hinunter. Ich rief Peter eine Warnung zu und hechtete zu den Stufen.
Doch es war zu spät. Ehe ich die erste Stufe erreicht hatte, ertönte ein Klicken, gefolgt von einem Sirren. Als ich den Kopf hob, sah ich, wie sich die große Glocke – der Durchmesser betrug mindestens 1,80 Meter, und der Klöppel hatte das Ausmaß einer Pampelmuse – genau über meinem Kopf um mehrere Zentimeter senkte. Die drei anderen Glocken bewegten sich nicht. Die Glocke erzitterte leicht und ließ mir gerade noch Zeit, mich zu ducken, ehe sie vehement zum Leben erwachte.
Und dies war keine langsame, gleichmäßige Kirchenglocke. Sie produzierte ein hektisches Gebimmel, wie ein Ruf zu den Waffen oder das Warngeläut einer Sturmglocke, das ertönt, wenn die Stadt vom Feind überrannt wird oder ein Tsunami droht. Ich krümmte mich, hielt mir die Ohren zu, und die Glocke läutete und läutete. Taubenkotkrusten krümelten auf meinen Kopf. Die Plattform unter mir schwankte. Zwanzigmal? Dreißigmal? Ich weiß nicht, wie lange das Läuten dauerte. Ich weiß nur noch, dass ich entsetzliche Angst hatte und Stoßgebete zum Himmel sandte, die Plattform möge doch bitte, bitte nicht zusammenbrechen.
Irgendwann klickte die Glocke in ihre ursprüngliche Stellung zurück. Dankbar, dass mich das Monstrum nicht k.o. geschlagen oder von der Plattform geschubst hatte, bürstete ich die Taubenköttel aus meinem Haar. Als mein Hörvermögen langsam wieder zurückkehrte, wurde ich eines vertrauten Geräusches gewahr: Es war Peter, der schallend lachte.
Weitere Kostenlose Bücher