Breed: Roman (German Edition)
Kopf.
»Sie haben kein Recht dazu«, sagt Leslie. »Sie werden jetzt nicht sterben, nicht bevor Sie …«
Kiš entwindet sich ihrem Griff und fällt zu Boden. Er dreht sich auf die Seite, zieht das Kinn an die Brust und bedeckt mit den Armen sein Gesicht. Sofort stürzt Leslie sich auf ihn. Er kann ihrer Kraft nichts entgegensetzen. Sie reißt ihm die Arme vom Gesicht und dreht ihn auf den Rücken.
»Lassen Sie mich sterben!«, schreit er, presst den Mund gleich wieder zu und macht sich daran, die restlichen Pillen zu schlucken.
Leslie hat keinen Plan, keine Idee, was sie nun tun soll. Ihr fällt lediglich ein, dass sie die Pillen aus dem Mund von Kiš holen und ihm dann vielleicht die Finger in die Kehle schieben muss, damit er erbricht, was er bereits geschluckt hat.
Sein Gesicht hat eine dunkle Grautönung angenommen. Auf seine Kopfhaut, seine Stirn und die langen Falten beiderseits seines Mundes treten große Schweißperlen.
»Machen Sie den Mund auf!«, befiehlt Leslie.
Wieder schüttelt er den Kopf, und jedes Mal, wenn sie nach ihm greift, dreht er sich weg.
Aber beim dritten Versuch hat sie ihn. Sie hält sein mit grauen Bartstoppeln bedecktes Kinn in der Hand und schiebt ihm zwei Finger in den Mund. Die Fingernägel krallt sie in seine untere Zahnreihe, um ihn zu zwingen, den Mund zu öffnen. Er wehrt sich mit aller Kraft, doch er ist alt, und das Beruhigungsmittel zeigt schon Wirkung.
»Aufmachen! Aufmachen!«, knurrt Leslie und zerrt gewaltsam an seinem Mund. Sie ist zorniger, als sie es je gewesen ist, verzweifelter, hektischer, und ihr ist jetzt nicht bewusst, wie stark sie ist. Sie hört das dumpfe, feuchte Knacken eines brechenden Knochens, als sich der Unterkiefer in ihren Händen vom Kopf löst wie die Zähne einer verfaulten Kürbislaterne. Kiš kann nicht einmal mehr schreien. Als einzige Reaktion auf das Verderben, das ihn ereilt hat, weiten sich minimal seine Augen. Dann öffnen sie sich vollständig und bleiben so, während das Licht in ihnen langsam erlischt.
Leslie steht auf, den Kiefer des Doktors noch in der Hand. Langsam öffnet sie die Finger, und das blutige Ding mit schlechten Zähnen plumpst auf den Boden.
Während sie durch den kleinen slowenischen Ort eilt, um zu ihren Kindern und Slavoj zu gelangen, reibt Leslie ihre Hand an den Mauern der alten Steinhäuser, um das Blut abzuwischen, aber das reicht nicht aus, um sie richtig sauber zu bekommen. Daraufhin steckt sie sich die Finger einzeln in den Mund und saugt daran, und als sie damit fertig ist, leckt sie sich die Handfläche ab und trocknet sie dann an ihren Hosenbeinen.
Die Zwillinge sind im Wagen, Slavoj sitzt auf der Kühlerhaube. Er raucht eine Zigarette und liest Zeitung. »Glücklicher Tag?«, fragt er, als er Leslie kommen sieht.
Sie schüttelt den Kopf. »Meine glücklichen Tage sind vorbei«, sagt sie.
»Also warten wir?« Er blickt auf seine Armbanduhr. »Vielleicht was essen? Mein Vetter hat ein Lokal, ist nicht weit.«
Leslie schafft es nur, den Kopf zu schütteln. Sie öffnet die Tür zum Fond. Die Zwillinge schauen sie an, voller Hoffnung, dass der Doktor ihrer Mutter geholfen hat, und voller Angst, dass sie als Nächstes an der Reihe sind. Noch mehr Angst haben sie allerdings davor, dass nichts erreicht wurde.
»Bringen Sie uns zum Flughafen zurück, bitte«, sagt Leslie. »Und wenn Sie sich beeilen, dann wäre das …« Sie hält inne und blickt verstohlen auf ihre Hand. Die sieht schlimmer aus, als sie gedacht hat. »Das wäre gut«, sagt sie.
»Was nun?«, fragt Alice, während Slavoj den Wagen wendet und sich auf den Weg zur Hauptstraße macht.
»Ihr habt eure Tante Cynthia noch gar nicht kennengelernt«, sagt Leslie.
»Mom«, sagt Alice, »das meine ich ernst. Was werden wir jetzt tun?«
»Mom?«, sagt auch Adam eindringlich. »Wir sind so weit gereist.«
»Es macht bestimmt Spaß, bei ihr zu wohnen«, sagt Leslie. »Euch wird das Spaß machen und ihr auch.«
»Mom, was werden wir tun?«, wiederholt Alice.
»Ich glaube nicht, dass wir jetzt wieder wegfliegen sollten«, sagt Adam. »Es war so weit bis hierher. Vielleicht ist der Doktor nur kurz weggegangen und kommt bald wieder.«
»Nein«, sagt Leslie. »Der kommt nicht wieder.« Sie vergisst, dass Blutspuren auf ihrer Hand sind, legt die Arme um ihre Kinder und zieht sie an sich. »Er wird uns nicht helfen können. Es tut mir leid. Ich weiß, Kinder glauben gern, dass es immer irgendjemanden gibt, der sie retten wird; vielleicht
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