Breed: Roman (German Edition)
»Das sollt ihr mir sagen. Ich will, dass ihr es sagt. Wessen Schuld war es?«
»Ist doch egal, Mom. Wir wollen einfach bloß zusammenbleiben.«
Es ist Adam, der das sagt. Oder ist es Alice? Plötzlich ist Leslie sich nicht mehr sicher. Ihre Denkfähigkeit bricht allmählich in Stücke. Aber es ist auch gleichgültig. Einer der beiden hat es gesagt, und es wird sich nicht erfüllen, sie werden nicht zusammenbleiben.
Etwas kommt ihr in den Sinn. Der Korkenzieher. Die erbärmlich kleinen Messer. Das ist womöglich das Schlimmste bisher. Aber es weist einen Weg. Das tut es, das tut es …
»Vergesst nicht eure Tante Cynthia«, sagt sie zu den Kindern.
Die beiden schauen sie an. Sie sind verwirrt, doch das werden sie nicht lange sein …
Der Polizeiwagen ist eine scharfe Kurve gefahren und kommt nun direkt auf den Bus zu. Jeder Gedanke in Leslies Kopf wird von zwei primären Zielen in den Hintergrund gedrängt: Freiheit und Flucht. Der Bus wird langsamer, da sie sich der Maschine nach München nähern, doch noch bevor er ganz angehalten hat, springt Leslie heraus. Sie wendet ihren Kindern den Rücken zu, während sie ihnen zum letzten Mal zuwinkt, dann rennt sie los.
Einige Augenblicke lang läuft sie über das Rollfeld, ohne verfolgt zu werden. Aber als die Besatzung des Polizeiwagens die Gestalt einer Frau sieht, die zwischen den sich auf den Start vorbereitenden Maschinen hindurchrennt, macht sie sich an die Verfolgung, und wenig später laufen auch ein Mechaniker, dann ein Gepäckarbeiter und schließlich noch ein Sicherheitsbeamter hinter Leslie her.
Es besteht wirklich keine Möglichkeit zur Flucht. Dafür sind auf diesem Flughafen einfach zu viele Menschen, deren Hauptaufgabe es ist, für Sicherheit zu sorgen. Aber es gibt mehr Möglichkeiten, Verfolgern zu entkommen, als ihnen davonzurennen. Man kann auch verschwinden. Doch wie verschwindet man? Kann man in die Hände klatschen und unsichtbar werden? Kann man einen Zauberspruch aufsagen, um sich in einen Vogel zu verwandeln und fortzufliegen? Leslie kann so etwas nicht.
Doch sie hat eine andere Idee, die sie seit der Stunde begleitet, in der die drei in Ljubljana gelandet sind und im Bus an den kreisenden Turbinen der großen Passagiermaschinen mit ihren tödlichen Lamellen vorübergefahren sind.
Als sie sich unter dem am rechten Flügel des Swissair-Jets montierten Triebwerk befindet, stellt sie zuerst überrascht und entmutigt fest, dass dieses viel weiter vom Boden entfernt ist, als sie gedacht hat. Aus der Entfernung hat es so ausgesehen, als könnte man einfach nach oben greifen, um das Triebwerk zu berühren, aber nun, da sie fast direkt darunter steht, scheint es fünfzehn Meter über ihr zu sein. Auch das Flugzeug selbst kommt ihr unglaublich riesig vor. Schwaden von brennendem Kerosin zittern in der Luft. Leslie hebt den Kopf und sieht durch das verschmierte Glas des Cockpits einen Piloten, der einen Kopfhörer trägt. Er scheint auf sie herabzublicken.
Hinter sich hört sie Stimmen, Rufe. Sie stellt sich vor, dass man ihr zuruft, sie solle stehenbleiben, sich umdrehen, aufgeben …
Sie fühlt sich stark, spürt die Spannung in ihren Beinen. Sie atmet tief ein. Luft füllt ihre Lunge wie Helium, und sie springt los. Es ist fast so, als würde sie fliegen. Immer höher steigt sie, und als sie nicht noch höher steigen kann, streckt sie die Hände aus und ergreift den Rand des weit offenen Triebwerks. Sie spürt, wie es sie einsaugen, sie verschlingen will. Ihr Haar strömt darauf zu. Das Getöse ist ohrenbetäubend. Es fühlt sich an, als wollten ihre Augäpfel geradewegs aus den Höhlen springen. Mit einem letzten Energieschub zieht sie sich hoch, und das ist alles, was nötig ist. In weniger Zeit, als ihr Herz braucht, um sich zu kontrahieren und auszudehnen, wird sie in die Turbine gesaugt wie eine Wildgans, wie irgendwelche Trümmerteile, wie etwas, das völlig belanglos ist, und das Triebwerk tut mit ihr, was es will. Es verschlingt sie, als wäre es ausgehungert, und wenige Momente später ist nichts mehr von ihr geblieben, was erkennbar wäre.
Alle Menschen in dem Bus, der die Passagiere zum Flug nach München bringt, sehen, was mit Leslie geschieht. Man hört keine Schreie, keine Rufe, keine Worte. Jeder Einzelne starrt fassungslos schweigend dorthin, und dieses Schweigen hält an, bis es von einem merkwürdigen Heulen gebrochen wird. Die Passagiere blicken nach links und nach rechts, um den Ursprung der langen, einsamen Laute zu
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