Breed: Roman (German Edition)
Sanitätsartikeln, eine Waage, ein Blutdruckmessgerät. Die Wände sind mit Fotos bedeckt, mit Hunderten Fotos von Babys, Kleinkindern, älteren Kindern, jungen Teenagern. Manche stehen einfach da, manche rennen, manche sind für den Kirchgang gekleidet und manche für ein Fußballspiel, manche werden von ihren stolzen Eltern flankiert, manche sind mit ihrem Zwilling oder ihren beiden Drillingsgeschwistern abgebildet. Es könnte die Titelseite einer UNESCO -Broschüre sein – Kinder aus der ganzen Welt, die samt ihren Eltern Freude ausstrahlen, die große Symphonie des Lebens in ihrem mitreißendsten Crescendo.
Lügen, Lügen
, denkt Leslie.
Wer hat bloß gesagt, die Kamera lügt nicht?
Kiš setzt sich hinter seinen Schreibtisch und weist Leslie mit einer Handbewegung an, sich ebenfalls zu setzen. Vor ihm stehen ein altmodisches Telefon mit Wählscheibe, eine Flasche Wasser und ein kleines, mit eiförmigen weißen Pillen gefülltes Plastikfläschchen. Er öffnet das Fläschchen, schüttelt sich zwei Pillen in die Hand und spült sie mit einem Schluck Wasser aus der Flasche hinunter. Die Pupillen seiner braunen Augen sind winzige Punkte, und die Iriden schwimmen unruhig in einem Meer aus bleichem Rot.
»Ich erinnere mich an Sie«, sagt er und deutet auf Leslie. »Sie sind mit diesem amerikanischen Anwalt verheiratet. Stimmt’s?«
»Mein Mann ist tot.«
Das hat Kiš anscheinend nicht gehört, vielleicht ist es ihm auch einfach egal. »Damals war Reggie bei mir, stimmt’s?« Er nimmt noch einen Schluck Wasser, schüttelt ein paar weitere Pillen in seine Hand, betrachtet sie einen Moment und steckt sie sich dann in den Mund, um sie zu schlucken. »Und wegen mir haben Sie ein Kind bekommen, stimmt’s?«
»Zwillinge.«
»Aha! Zahlen Sie doppelt.« Er klatscht in die Hände und streckt dann die rechte Hand aus, als würde er wirklich Geld erwarten.
»Sie haben mich zerstört, Doktor. Sie haben mich und … und meinen Mann in etwas verwandelt …« Sie schüttelt den Kopf. »In etwas, womit ich nicht leben kann.«
»Was macht das denn für einen Unterschied; wir leben, wir sterben. Ich habe aufgehört, mir Sorgen zu machen. Mein Gewissen ist rein. Rein! Sie und Ihr Mann sind zu mir gekommen, weil Sie unbedingt ein Kind wollten, und ich habe Ihnen gegeben, was Sie wollten. Doppelt! Vergessen Sie das nicht. Eines umsonst. Wie viele Leute in meinem Gebiet können das sagen? Diese Ärzte, sie kassieren Millionen Euro, und trotzdem landen ihre Patienten schließlich in Afrika oder der Ukraine oder auf dem Mond, um ein Kind zu adoptieren. Ich habe Ihren Körper funktionsfähig gemacht. Ich habe ihn dazu gebracht, Ihnen das zu geben, was er verweigert hat.«
»Es ist viel geschehen, Dr. Kiš. Viele Dinge. Ich glaube, Sie wissen schon von allem, was schiefgelaufen ist.«
»In ein paar wenigen Fällen. Wieso schert sich niemand darum, über die vielen Tausend erfolgreichen Behandlungen zu sprechen? Was ist los mit der Menschheit, dass wir uns nur auf Dinge konzentrieren, die schiefgehen?« Er schüttelt zwei weitere Pillen aus dem Fläschchen und bewegt sie in der Hand wie jemand, der am Tresen einer Bar sitzt und überlegt, ob er noch ein paar Erdnüsse mampfen soll.
»Es sterben Menschen, Doktor. Und Monster werden erschaffen.«
»Sind Sie gekommen, um mir
das
zu erzählen? Hören Sie: Wir Ärzte spielen ein Schachspiel mit der Natur. Die Natur will euch verkrüppeln, die Natur will, dass ihr an Herzversagen leidet, die Natur sagt, ihr müsst kleine Brüste, Runzeln, Leukämie bekommen oder unfähig sein, neues Leben zu gebären. Daher suchen und denken und planen wir, und dann machen wir unseren Schachzug. Manchmal sind wir siegreich, und die Natur weicht zurück, und ihre Pläne werden durchkreuzt. Aber sie weicht nur zurück, ja? Sie verschwindet nicht. Sie kehrt wieder, stärker den je. Und am Ende siegt sie immer.« Er lächelt. »Lassen Sie mich in Frieden, Miss. Ich kann nichts mehr für Sie tun.«
»Sie haben gesagt, Sie hätten …« Leslie schließt einen Moment die Augen und versucht, ein wenig Fassung wiederzugewinnen, während die unermüdlichen kleinen Dämonen in ihrem Innern ihre Gedanken stören und die Wörter verstecken, die sie sagen will. Ah – aber einer der kleinen Dämonen hat es nicht geschafft, Schaden anzurichten, und da ist es, das Wort, sogar eine ganze Kette von Wörtern, allesamt wunderbar miteinander verknüpft. »Sie haben gesagt, Sie hätten irgendeine Prozedur entwickelt, durch
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