Breed: Roman (German Edition)
damit sie und die Zwillinge auf gleicher Höhe sind. »Hört zu, ihr beiden. Ihr wartet auf mich, während ich mit dem Doktor spreche. Er wird mir etwas geben, das mich …« Sie atmet tief durch. »Ich will eure Mutter sein. Ich will eine gute Mutter sein.«
»Das bist du doch, Mom«, sagt Adam.
»Wir haben dich lieb, Mom«, sagt Alice. »Es tut uns leid, dass wir weggelaufen sind.«
Leslies Augen füllen sich mit Tränen. So hat sie sich schon jahrelang nicht mehr gefühlt, so zärtlich, so dankbar für ihre Kinder, so ruhig, so menschlich; es ist fast so, als hätte Kiš sie bereits wieder zurückverwandelt.
»Aber uns muss er auch besser machen«, sagt Adam.
»Mit uns ist alles in Ordnung«, widerspricht Alice.
»Willst du etwa so wie Rodolfo und die anderen werden?«, fragt Adam sie mit schriller Stimme.
»Ich gehe zuerst rein«, sagt Leslie. »Euch beide hole ich später.«
Slavoj führt die Kinder zum Wagen zurück, und Leslie nimmt sich vor der Tür von Kiš einen Moment Zeit, um sich zu sammeln. Dann will sie klopfen, überlegt es sich jedoch anders und versucht stattdessen, einfach so hineinzugehen. Sie hat bemerkt, dass über der Tür eine kleine Kamera angebracht ist, deren unwissendes Glasauge auf sie herabstarrt. Darunter ist ein rotes Lämpchen, das pulsierend an-und ausgeht wie ein winziges Herz. Sobald sie die Tür berührt, öffnet diese sich einen Spaltbreit. Erschrocken und voll Argwohn weicht Leslie zurück. Die Überwachungskamera blickt auf sie herab. Ihre Linse fängt von irgendwoher ein wenig Sonnenlicht ein, und ein Prisma aus Farben läuft schimmernd über die Oberfläche wie ein Ölfleck in einer Pfütze.
Leslie drückt die Tür weiter auf und tritt ein. Sie gelangt in ein kleines Zimmer, das dunkel und feucht ist und nach Jahrhunderten riecht. Das einzige Möbelstück ist ein kleines Sofa, über dem eine medizinische Zeichnung der menschlichen Fortpflanzungsorgane hängt. Gegenüber dem Sofa steht ein ziemlich großes Aquarium mit trübem Wasser, in dem sich kein Fisch befindet. Am Ende des Raums ist eine Tür, dunkelblau lackiert. Durch Kratzer ist ein Teil der Farbe abgeblättert. Über allem breitet sich eine dichte Decke des Schweigens aus; Leslie hört nichts als ihr eigenes Atmen. Sie macht einen zögernden Schritt vorwärts. Als die alten Bodendielen ächzen, bleibt sie stehen, einen Moment wie gelähmt.
Plötzlich hört sie eilige Schritte auf sich zukommen, und die zerkratzte blaue Tür fliegt auf. Dr. Kiš ist sehr gealtert, seit sie ihn das erste Mal gesehen hat. Er trägt unförmige braun-graue Hosen, die von Hosenträgern gehalten werden, und ein schlabberiges T-Shirt. Seine Haare sind ein dünnes weißes Gewirr. Er ist unrasiert. Sie kann den Alkohol an ihm riechen, an seinem Atem, seiner Haut. Über dem Kopf hält er einen Spazierstock, den er hin und her bewegt, als wäre es sein größter Wunsch, jemanden damit zu schlagen. Er schleudert Leslie etwas auf Slowenisch entgegen.
»Mein Name ist Leslie Kramer, Dr. Kiš. Ich bin von weit her gekommen, weil ich Ihre Hilfe brauche.«
»Vorbei. Da ist nichts mehr, was ich für Sie oder für mich oder für irgendjemand anders tun kann. Nichts ist mehr möglich.«
»Aber Sie haben gesagt, es gibt einen Weg zurück, Doktor. Sie haben gesagt, sie könnten …«
»Praxis geschlossen«, sagt Kiš mit grausamem, schiefem Lächeln. »Alles zu Ende.« Er blickt sich um, als wollte er sich vergewissern, dass Leslie allein ist. »Wer hat Sie hereingelassen?«
»Die Tür war offen. Und jetzt hören Sie mir zu, bitte …«
»Sie sagen mir, ich soll zuhören? Sie schleichen sich in mein Haus, um mir Befehle zu geben?« Er schwingt seinen Stock, doch Leslies Reflexe sind ausgesprochen gut. Sie fängt das Ding mitten in der Luft ab und reißt es ihm aus der Hand.
»Sie haben meinen Körper ruiniert«, sagt Leslie und schleudert den Stock durchs Zimmer. Klappernd verschwindet er unter dem Sofa. »Und alles andere.«
»Ich kenne Sie gar nicht«, sagt Kiš und versucht, seine Würde wiederzugewinnen. Er stellt sich ein wenig aufrechter hin und verschränkt die Arme über der Brust.
»Bitte, Dr. Kiš, ich flehe Sie an.«
Er spitzt die Lippen, schüttelt den Kopf. »Gut, folgen Sie mir.«
Kiš dreht sich um. In seiner Gesäßtasche zeichnet sich der Umriss einer kleinen Schnapsflasche ab. Leslie folgt ihm in den nächsten Raum, ein provisorisches Untersuchungszimmer. Es enthält eine Liege mit Beinstützen, einen Glaskasten mit
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