Breed: Roman (German Edition)
mag einfach keinen anderen Ort auf der Welt auch nur halb so sehr.«
»Das verstehe ich«, sagte Leslie. Die Enden ihres stumpf geschnittenen, kastanienbraunen Haars berührten die dunkelrote, vom Regen besprenkelte Wolle ihres Mantels. Sie hatte das einfache, aber hübsche Gesicht einer Pioniersfrau; er konnte sich vorstellen, wie sie hinten auf einem Planwagen saß und sehnsüchtig nach Osten blickte, während sie mit ihrer Familie westwärts zog. Ihre Augen waren hellgrün, und obwohl sie lächelte, machte sie irgendwie einen reizbaren, leicht verletzlichen Eindruck.
Alex, der für die Arbeit einen mehrere tausend Dollar teuren englischen Anzug trug und selbst in geselligen Situationen zur Zurückhaltung neigte, fragte zu seiner eigenen Verblüffung: »Hätten Sie denn Interesse, es von innen zu sehen?«
Von da an bis zum näheren Kennenlernen und zur Hochzeit verstrichen gerade einmal fünf Monate, und es entging Leslie nicht, dass manche Leute (genauer gesagt: viele) sie für ein Luxusweibchen hielten, das Alex Twisden sich in der Midlife-Crisis geangelt hatte. Obwohl sie ihn liebte, und obwohl er sie ebenfalls liebte (da war sie sich sicher), und obwohl sie fast dreißig war (genauer gesagt: achtundzwanzig) und eine ausgezeichnete (genauer: gute) Stelle bei einem erfolgreichen (genauer: aufstrebenden) New Yorker Verlag hatte – der Umstand, dass sie siebzehn Jahre jünger als Alex war, dass er reich, kinderlos und wahrscheinlich (genauer: eindeutig) auf der Suche nach einem Erben war, machte aus Leslie ein Luxusweibchen, was in den wohlhabenden Kreisen von Manhattan als Synonym für eine gesellschaftlich sanktionierte Edelvariante der Prostitution gilt.
Inzwischen lastet auf dem glanzvollen Luxusweibchen allerdings ein erheblicher Makel. Seit drei Jahren versucht Leslie schon, schwanger zu werden, weshalb sie mit Alex gerade im Anbau der Herald Church in der West Ninetieth Street sitzt, in einem deprimierenden, klaustrophobischen, übelriechenden, schlecht beleuchteten, schrecklichen und deprimierenden (ja, das ist durchaus einer zweiten Erwähnung wert) Kellerraum, in dem die beiden an dem zweimal wöchentlich stattfindenden Treffen der Selbsthilfegruppe für unfruchtbare Paare teilnehmen. Während Leslie den Blick über den abgenutzten Linoleumboden, die Gipskartonwände, die rechteckigen Neonlampen und die Metallklappstühle schweifen lässt, schlägt sie die Beine übereinander, stellt sie gleich darauf wieder züchtig auf den Boden und versucht, den Ausdruck auf dem langen, schmalen, ernsten Gesicht ihres Mannes zu deuten. Der ist jedoch so undurchdringlich, wie wenn Alex im Aufzug zum obersten Stock des Erskine Building fährt, wo die altehrwürdige Kanzlei Bailey, Twisden, Kaufman & Chang ihren diskreten Geschäften nachgeht, einer anwaltlichen Tätigkeit, die Leslie eher an Buchführung erinnert als an das, was man im Fernsehen sieht. Bei TV -Anwälten stehen Leben auf dem Spiel, Unrecht wird beseitigt, und das System tastet sich blind zur Gerechtigkeit hin. Bei BTK&C geht es hingegen ausschließlich um die ordnungsgemäße Übertragung von Eigentum, und die goldene Regel lautet offenbar: »Tritt nie dem Mandanten auf die Zehen.«
Eigentlich wollen und brauchen weder Alex noch Leslie die psychologische oder moralische Unterstützung anderer von Unfruchtbarkeit betroffener Paare. Sie nehmen teil, weil Alex die Theorie entwickelt hat, bei solchen Treffen gehe es nicht nur darum, schluchzend Bekenntnisse abzulegen wie bei den Anonymen Alkoholikern, sondern auch darum, Informationen über Behandlungsmethoden und Reproduktionsmediziner auszutauschen. Bisher haben sie allerdings noch niemanden getroffen, der etwas anderes unternommen hat als das, was Alex und Leslie ausprobiert haben, oft in denselben Kliniken, bei denselben Ärzten und sogar bei denselben gutherzigen Krankenschwestern. Das heutige Treffen ist besonders sinnlos. Zwei der neun Paare in der Gruppe haben sich bereits getrennt – Unfruchtbarkeit kann eine Ehe ruinieren –, aber trotzdem tauchen die Ehemänner dieser kaputten Beziehungen nicht nur bei den Treffen auf, sondern dominieren auch die Gespräche. Die Featherstones, ein rundliches, fröhliches Duo – er ist Grundschullehrer, sie Konditorin –, wollen eine tolle Neuigkeit loswerden. Chelsea ist schwanger, zumindest
war
sie es, und obwohl sie bereits in der dritten Woche eine Fehlgeburt hatte, sind beide Featherstones überschwänglich, denn sie meinen, sie hätten ihr Problem
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