Brenda Joyce
außer Atem, und das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie
öffnete ihre Hand und sah, dass die Frau ihr eine Visitenkarte hineingedrückt
hatte, aber trotz des Lichtes der Straßenlaternen war es unmöglich, sie zu
entziffern. Als Francescas Vater sie erneut rief, steckte sie die Karte rasch
in ihre perlenbestickte Handtasche.
Dann atmete sie tief durch, wandte sich um und schritt auf den
Brougham ihrer Eltern zu. Ihr Vater, der bereits auf sie wartete, warf ihr
einen forschenden Blick zu. »Hat dich diese Frau belästigt? Ist etwas passiert?«
Francesca schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. »Nein, nein, es
war nichts weiter, lediglich eine Verwechslung, das ist alles«, sagte sie.
In Gedanken war sie bei der Frau, die sie um
Hilfe gebeten hatte. Offenbar steckte sie in Schwierigkeiten, und ihrem Tonfall
nach zu urteilen musste es sich um große Schwierigkeiten handeln.
Als sie endlich allein in ihrem Zimmer war, holte Francesca die
Visitenkarte aus ihrer Handtasche hervor. Vorn auf der Karte stand der Name der
Frau zu lesen – sie hieß Miss Georgette de Labouche –, und darunter war ihre
Adresse gedruckt, 28 West 24th Street. Sie wohnte also nur wenige Straßen vom
Madison Square entfernt.
Francesca drehte die Karte um und sah, dass die Frau ein paar
Worte in Blockschrift darauf geschrieben hatte:
HELFEN SIE MIR
KOMMEN SIE SOFORT
NOCH HEUTE ABEND
Francesca stieß vor Verblüffung einen zischenden
Laut aus. Was mochte es mit diesem Hilferuf nur auf sich haben?
Sie zog ihre weißen Abendhandschuhe aus, die
ihr bis zu den Ellenbogen hinaufreichten, und entledigte sich ihrer hochhackigen
grünen Satinpumps. Ob es sich möglicherweise um einen Trick handelte?
Doch sie kannte niemanden – außer vielleicht
Evan –, der ihr einen solchen Streich spielen würde, und ihr Bruder würde es
gewiss nicht zu einer solch späten Stunde tun. Immerhin bat man sie
eindringlich, auf der Stelle zum Madison Square zurückzukehren. Francesca
blickte zu der großen, bronzenen Uhr hinüber, die auf der ebenholzfarben gebeizten
Ahorn-Kommode stand. Es war zehn Minuten nach zehn.
Zu spät für eine unverheiratete Dame von Stand, um sich ohne
Begleitung in der Stadt herumzutreiben. Anständige Damen gingen zu Dinnerpartys
oder einem Ball, zu einem Opern- oder einem Ballettbesuch.
Aber Francesca war nun einmal nicht wie die anderen unverheirateten
jungen Damen in dieser Stadt.
Warum hatte Miss Georgette de Labouche nur ausgerechnet sie für
ihre Bitte auserkoren? Und was für einen ungewöhnlichen Namen sie trug! Ob sie
eine Schauspielerin war? Francesca begann auf und ab zu schreiten, wobei ihr
das mintgrüne Abendkleid – eine Kombination aus Seide und Chiffon – um die
Beine raschelte. Dann blieb sie unvermittelt stehen. Die Fremde war wirklich
verängstigt und schrecklich verzweifelt gewesen, und das bedeutete, dass Francesca
ihrer Bitte nachkommen und ihr helfen musste.
Francesca eilte zu ihrem Schrank und riss ihn
auf. Ihr Elternhaus, das erst wenige Jahre zuvor erbaut worden war, verfügte
über alle nur denkbaren modernen Annehmlichkeiten wie Elektrizität, Wandschränke,
sanitäre Anlagen im Haus und ein Telefon, welches sich unten im Arbeitszimmer
ihres Vaters befand. Die Villa, die gegenüber vom Central Park, ein Stück
abseits von der Fifth Avenue stand, war über eine imposante, kreisförmige
Auffahrt erreichbar, die in große Rasenflächen eingebettet war. Die Presse
nannte sie den »Marmorpalast«. In Francescas großem und wunderschön
eingerichtetem Zimmer gab es allerdings keinen Marmor – bis auf das Sims über
dem Kamin und die Platte des Tisches, der vor dem beigefarbenen Damastsofa und
den blauen Sesseln stand.
Sie zog ein taubengraues Kostüm aus dem Schrank und kämpfte mit
den Knöpfen ihres Abendkleides, die sich auf dem Rücken befanden. Aber sie
wollte auf keinen Fall das Mädchen rufen. Francesca fragte sich, ob sich ihr
Vater wohl um diese Uhrzeit noch in der Bibliothek aufhielte, die sich genau
wie sein Arbeitszimmer im Erdgeschoss befand. Die Bibliothek war Andrews
Lieblingszimmer, seine Zufluchtsstätte, und es konnte gut sein, dass er vor dem
Zubettgehen dort noch Zeitung las. Francesca spielte mit dem Gedanken, Bragg
anzurufen.
Doch natürlich würde er nicht zu Hause sein,
denn schließlich befand er sich ja noch auf dem Fest im Rooftoof Garden.
Allerdings vermutete Francesca, dass er es auch nicht mehr sehr lange auf
Stanford Whites schockierender Party aushalten würde. Vielleicht
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