Brenda Joyce
war er auch
noch in sein Büro auf der Mulberry Street Nummer 300 gefahren, um dort bis tief
in die Nacht zu arbeiten, wie er es so häufig tat.
Andererseits würde sie möglicherweise ihren
ersten eigenen Fall riskieren, wenn sie Bragg anriefe, weil er ihn selbst übernehmen
würde. Zitternd vor Sorge und Aufregung pellte sie sich aus dem Kleid. Sie
musste die Angelegenheit allein erledigen, durfte Bragg – der sie ja ohnehin
noch eine Stunde zuvor zurückgewiesen hatte – nichts davon sagen. Und doch
dachte sie plötzlich daran, was sich in der Woche zuvor zugetragen hatte, als
sie ebenfalls zu solch später Stunde allein ausgegangen war.
Evan hatte sie erwischt und war seitdem seiner
Schwester gegenüber äußerst misstrauisch, da er glaubte, sie habe ein Techtelmechtel
und sei an jenem Abend mit dem Mann verabredet gewesen. Auch Bragg hatte
mitbekommen, dass sie weit nach Mitternacht nach Hause zurückkehrt war, und
hatte ebenfalls das Schlimmste angenommen. Und als sei all das noch nicht
genug, hatte ihr Schwager Neil Francesca am Sonntag zuvor dabei erwischt, wie
sie in der Verkleidung eines Hausmädchens nach Hause gekommen war. Auch er
hatte vermutet, dass sie einen Liebhaber hatte.
Bei diesen Gedanken musste Francesca unwillkürlich lächeln.
Offenbar begann ihr guter Ruf gewaltig unter ihren kriminalistischen
Ambitionen zu leiden. Dabei waren diese Verdächtigungen doch so weit von der
Wahrheit entfernt – zumindest bis auf diesen einen Kuss zwischen ihr und Bragg.
Wie auch immer, es war grundsätzlich keine
gute Idee, zu einer solchen Stunde allein auszugehen – von dem Schaden, den es
ihrer Reputation zufügen würde, einmal ganz abgesehen.
In der Nacht trieben die schlimmsten, übelsten und gefährlichsten
Elemente ihr Unwesen, und die Stadt war nicht der geeignete Aufenthaltsort für
eine Dame, ganz gleich, in welcher Branche sie auch arbeiten mochte. Francesca
schoss durch den Kopf, dass sie sich für ihre neue, wenngleich geheime Aufgabe,
wohl besser unverzüglich eine Waffe zulegen sollte.
Während sie sich fertig anzog, fragte sie
sich, ob Georgette de Labouches Bitte wohl ein Trick war und ihr jemand eine
Falle stellen wollte. Immerhin musste sie diese Möglichkeit in Betracht
ziehen, und schon allein aus diesem Grund wäre es viel besser gewesen, bis zum
Morgen zu warten, ehe sie zum Madison Square zurückkehrte. Doch Francesca
wollte nicht warten, denn sie war zutiefst davon überzeugt, dass Georgette de
Labouche in ernsthaften Schwierigkeiten steckte.
Plötzlich schoss ihr durch den Kopf, dass sie den kleinen Joel
Kennedy bitten könnte, sie zu begleiten. Er wäre genau der Richtige für diese
Aufgabe, denn obgleich er erst zehn Jahre alt war, kannte er die Stadt doch wie
seine Westentasche und hatte sie schon aus so mancher misslichen Situation
befreit.
Francesca nahm sich vor, den Jungen auf dem Weg in die Innenstadt
abzuholen, und lächelte erleichtert in sich hinein.
Joel lebte
mit seiner Mutter – sie arbeitete als Näherin für den Kleiderfabrikanten Moe
Levy – und seinen beiden jüngeren Brüdern und der jüngeren Schwester auf der
Avenue A, in unmittelbarer Nähe der Tenth
Street. Er war ein kleiner Strolch, ein Taschendieb, dessen Foto sich sogar in
Braggs Schurkensammlung befand. Diese Kladde enthielt Fotografien der
meistgesuchten Ganoven der Stadt und war ursprünglich von Tom Byrnes, Braggs
berüchtigtem Vorgänger, angelegt worden.
Francesca und Joel hatten sich durch Zufall
während der Ermittlungen zu Jonny Burtons Entführung kennen gelernt. Der Junge
hatte sie vor einem Grobian gerettet, und seitdem fühlten sie einander auf
eigenartige Art verbunden. Da Joel sich bestens in New York auskannte – ganz
besonders in den Elendsvierteln der Innenstadt –, hatte ihn Francesca wiederholt
um Rat und Hilfe gebeten. Francesca war sich nicht sicher, ob es ihr gelungen
wäre, den wahnsinnigen Entführer zu stellen, hätte sie nicht Joel an ihrer
Seite gehabt. Sie hatte den kleinen Jungen während der vergangenen Wochen
geradezu lieb gewonnen, hatte sie doch erkannt, dass er nicht durch und durch
schlecht war. Wenn er jemals sein verbrecherisches Treiben aufgäbe, wäre er
gewiss ein ganz entzückendes Kind.
Aber Francesca hatte auch gesehen, in welch
ärmlichen Verhältnissen die Familie des Jungen lebte. Sie hatte gesehen, wie
seine junge Mutter, Maggie, schuftete, um ihre vier Kinder durchzubringen. Sie
hatte gesehen, wie sehr Joel an seinen Geschwistern hing, auch
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