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Brennaburg

Brennaburg

Titel: Brennaburg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang David
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ergründen. Sobald sie es versucht, beginnt sich das Bild zu bewegen, wie die Oberfläche eines Teiches, in den ein Stein geworfen wurde. Dann eine Flut von Geräuschen, die rasch anschwillt: Hammerschläge, Waffengeklirr, Murmeln und Raunen, Verwünschungen. Zahllose Männer eilen herbei, starren sie keuchend an. Sie will fliehen, aber ihr versagen die Beine. Da bricht das Getöse jäh ab. Die Gestalten zerfließen, lösen sich in einem blassen Nebel auf, der widerlich nach Eisen schmeckt.
    Kaum Erinnerungen an die Zeit danach: eine Abfolge von Belästigungen, deren Sinn sie nie verstanden hat. Der Schreck beim Eintauchen in das kalte Taufwasser. Die Qualen der Geburt. Die Überwindung, die es sie kostete, sich morgens zu erheben. Ihr Unvermögen, Gesichter zu unterscheiden. Ihre Abneigung gegen Gesang. Die verstörten Blicke der Nonnen. Der erste Schnee in jedem Jahr. Das Dröhnen der Glocke. Der Geruch des Gemäuers. In den Nächten die Fragen: Ist das schon alles? Mußte es tatsächlich so kommen? Wozu sind dann aber vorher eine Kindheit und dieser hohe blaue Himmel gewesen? Und – warum gerade ich?
    Schließlich, unmerklich, die Gewöhnung. Und stets aufs neue jene Bilder, die niemals zu altern scheinen: Abglanz eines Lebens, das ihr wunderlich geworden ist, ebenso fremd und unbegreiflich wie jedes andere …

DRITTES KAPITEL
1
    O KTOBERTAGE GIBT ES , an denen man meinen könnte, daß der Herbst seinem scheidenden Vorgänger ein Fest ausrichtet. Die Luft ist so mild wie im Mai, der Himmel wolkenlos, und da die Stürme noch nicht eingesetzt haben, erinnern die Äste der Laubbäume unwillkürlich an die buntverzierten Initialen eines Psalmenbuches. Betritt man die Wälder, verschlägt einem der süße Duft der welkenden Blätter den Atem. Von der Wärme getragen, entströmt er dem Unterholz und streicht träge zwischen den Stämmen dahin. In den schrägen Strahlen der geschwächten Sonne gleißen die Fäden des Altweibersommers, die Beeren der Eberesche aber glühen wie Rubine. Pilze wachsen so reichlich wie Schneeglöckchen im Frühling.
    Bleibt man, das Prasseln der eigenen Schritte noch im Ohr, plötzlich stehen, bestürzt einen zunächst die scheinbare Leblosigkeit dieser Pracht; es ist, als sei die Stille vollkommen. Nicht lange jedoch, und man bemerkt, daß auch der Herbstwald seine Geräusche hat: den leisen Aufschlag unaufhörlich fallender Eicheln, das Rascheln der Drosseln und das schwermutige ›Kliöh‹ eines Schwarzspechtes.
    Gegen Ende des Jahres neunhundertzweiunddreißig ritten an einem ebensolchen Tag und in einem ebensolchen Wald ungefähr vier Dutzend Ungarn, von Westen kommend, auf die Saale zu. Jeder von ihnen war mit Pfeil und Bogen sowie einem stattlichen Säbel bewaffnet, dessen leicht gebogener Griff weit aus der Scheide ragte. Ihre Füße steckten in kurzschäftigen Stiefeln, auf den Köpfen trugen sie spitze Mützen. Wegen des warmen Wetters hatten die meisten ihre Mäntel geöffnet, einige sogar abgelegt.
    Keiner der Reiter schien verwundet, ihre Köcher waren vollgestopft mit Pfeilen, und die Kleidung, obzwar fleckig, enthielt weder Risse noch Löcher. Nichts deutete darauf hin, daß sie einen Kampf hinter sich hatten oder überfallen worden waren – und doch machten sie einen so erschöpften und mutlosen Eindruck, als hätten sie mit dem Teufel höchstpersönlich gefochten. Ihre geröteten Augen lagen tief in den Höhlen, die Lippen waren aufgesprungen und die fahlen, abgezehrten Gesichter auf eine Weise verzerrt, wie man dies bei Menschen antrifft, deren Selbstbehauptungswille am Erlöschen ist. In den Sätteln schwankend, drängten sie sich zusammen und schauten nach jedem Laut gehetzt um sich.
    Es war noch nicht lange her, da hatten die meisten von ihnen Angst für ein Gefühl gehalten, das Leute ihres Schlages allenfalls im Traum heimsuchen konnte. Herausfordernd und fröhlich, wie es sich für Männer gehört, die wissen, daß sich alle Welt vor ihnen fürchtet, so hatten sie drei Wochen zuvor sächsisches Gebiet betreten und mit ihrem ausgelassenen Lachen den Ärger der Häher erregt. Es hatte sie vieles erheitert: die Strohhüte und das Schuhwerk der Bauern, die Zäune um deren Felder, die behäbige Art, mit der sie ihre schweren Gäule bestiegen, besonders aber die nacktwadigen Frauen, die beim Anblick der Abteilung kreischend davonstoben: bedauerlich, daß es einem wegen des Waffenstillstandes verboten war, sich eine dieser aufgescheuchten Hennen zu schnappen und aufs

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