Brennen Muss Salem
Licht sah, das ihre Mutter immer brennen ließ, wenn sie nicht zu Hause war.
»Wer wohl dort oben ist?« fragte sie und schaute zum Marstenhaus hinüber.
»Vermutlich der neue Besitzer«, sagte Ben gleichmütig.
»Das Licht sieht nicht nach elektrischem Licht aus«, überlegte sie. »Zu gelblich, zu schwach.«
»Vielleicht haben sie noch keinen Strom.«
»Vielleicht. Aber für gewöhnlich ruft man das E-Werk an, bevor man in ein Haus einzieht.«
Er antwortete nicht.
»Ben«, sagte sie plötzlich, »handelt dein neues Buch vom Marstenhaus?«
Er lachte und küßte sie auf die Nasenspitze. »Es ist spät.«
»Ich wollte dich nicht ausfragen.«
»Schon gut. Vielleicht ein andermal... bei Tag.«
»Okay.«
»Ins Haus mit dir, Mädchen. Morgen um sechs?«
Sie sah auf die Uhr. »Heute um sechs.«
»Gute Nacht, Susan.«
»Gute Nacht.«
Sie stieg aus und lief rasch den Weg zum Haus hinauf, dann drehte sie sich um und winkte, während er wegfuhr. Bevor sie hineinging, schrieb sie auf den Bestellzettel für den Milchmann:
»Saurer Rahm«. Mit gebackenen Kartoffeln würde er dem Abendbrot eine etwas festlichere Note geben.
Bevor sie das Haus betrat, warf sie einen letzten Blick auf das Marstenhaus.
Ohne das Licht anzudrehen, zog Ben sich in seiner kleinen Kammer aus und kroch nackt ins Bett. Sie war ein nettes Mädchen, das erste nette Mädchen seit Mirandas Tod.
Er ließ seine Gedanken schweifen. Kurz bevor er einschlief setzte er sich nochmals auf und blickte an seiner Schreibmaschine vorbei durchs Fenster. Er hatte Eva Miller absichtlich um dieses Zimmer gebeten, nachdem er mehrere andere besichtigt hatte, weil man von hier zum Marstenhaus sehen konnte.
Dort oben brannte immer noch ein Licht.
Zum ersten Mal seit seiner Ankunft in Jerusalem's Lot hatte er wieder den alten Traum. Und der Traum war ebenso lebhaft und schrecklich wie kurz nach dem tödlichen Motorradunfall Mirandas. Den Gang entlang laufen, ein schrecklicher Schrei, die ächzende Tür, die baumelnde Gestalt, die plötzlich sich öffnenden verquollenen Augen .. . Und er selbst, der sich mit der qualvollen Langsamkeit eines Traumes zur Tür wendet -
Und die Tür ist verschlossen.
3
Jerusalem's Lot (I)
Die Stadt erwacht nicht langsam. Die Arbeit wartet nicht.
Schon vor Sonnenaufgang, wenn über dem Land noch die Dunkelheit liegt, regt sich in der Stadt das Leben.
Die beiden Griffen-Jungen – der achtzehnjährige Hai und der vierzehnj ährige Jack - haben bereits mit dem Melken begonnen. Der Stall ist blitzsauber, weiß getüncht, glänzend. Jack schiebt einen Haufen Heu in den ersten der vier Ställe. Hai öffnet den Schuppen und zieht die Melkmaschinen heraus.
Er ist kein sehr aufgeweckter Junge, sondern eher mürrisch und verschlossen, und an diesem Tag ist er besonders verärgert.
Gestern abend hat er mit seinem Vater eine unangenehme Aussprache gehabt. Hal will nicht mehr zur Schule gehen. Er haßt die Schule. Er haßt die Langweile, die er dort empfindet, er haßt den Zwang, fünfzig Minuten hintereinander stillsitzen zu müssen, und er haßt alle Gegenstände, mit Ausnahme des handwerklichen Unterrichts. Englisch ist zum Verrücktwerden, Geschichte ist dumm, Mathematik völlig unverständlich. Und alle diese Gegenstände sind doch ganz unwichtig, das ist das Schlimmste daran. Den Kühen ist es gleichgültig, ob man in grammatikalisch richtigen Sätzen spricht oder die Zeiten verwechselt, es ist ihnen auch gleichgültig, wie der Kommandant der verdammten Armee während des verdammten Bürgerkrieges hieß, und was die Mathematik betrifft, so kann doch auch sein eigener Vater zwei Fünftel und ein Viertel nicht addieren.
Deshalb beschäftigt er ja auch einen Buchhalter. Und den muß man sich einmal anschauen! Hat das College gemacht und arbeitet immer noch für einen ungebildeten Mann wie es sein Vater ist. Überdies hat ihm sein Vater wieder und wieder gesagt, daß das Geheimnis eines erfolgreichen Geschäftes (und eine Molkerei ist ein Geschäft wie jedes andere) keineswegs in Büchern zu finden sei; die Leute kennen - das war das Geheimnis. Sein Vater hat niemals etwas anderes als ›Reader's Digest‹ gelesen, und trotzdem verdient er 16000 Dollar im Jahr. Die Menschen kennen. Ihnen die Hand schütteln, den Vornamen ihrer Frau wissen und sich erkundigen, wie es ihr geht. Nun, auch Hai kennt die Menschen. Es gibt solche, die man herumkommandieren kann, und solche, mit denen das nicht geht. Von ersteren gibt es zehnmal mehr als
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