Brennende Fesseln
scheint inzwischen die einzige Form von Autorität zu sein, die ich noch anerkennen kann, aber Ian – mein süßer Ian – hat keinen einzigen herrischen Knochen in seinem Körper.
Während des Essens ist er sehr zurückhaltend. Wir bemühen uns um unverfängliche Themen, um einen Streit zu vermeiden. Ich erzähle ihm, daß ich am Samstag bei Maisie war, was ihn sehr freut – seit einiger Zeit liegt er mir ständig in den Ohren, mehr auszugehen und meine alten Freunde zu besuchen. Wir sind bereits bei der Nachspeise angelangt – aufgetauten Beeren mit Sahne –, als Ian zu mir herübersieht und sagt: »Ach ja, das habe ich ganz vergessen. Ich bin heute Philip Ellis in die Arme gelaufen.«
»Wem?« frage ich, weil mir der Name nichts sagt.
»Du weißt schon – der Typ aus dem Ding How , der Biologe,
über den du geschrieben hast, der mit der Studie über Frösche. Weibliche Partnerwahl, irgendwas in der Art. Er kam gerade am Bee vorbei, als ich in die Mittagspause wollte. Wir haben ein paar Minuten geredet und sind dann zum Essen ins Paragary’s gegangen. Ein interessanter Mann. Wir haben uns ziemlich gut unterhalten. Nächste Woche gehen wir zusammen golfen. Ich habe ihm erzählt, daß ich schon seit dem College nicht mehr gespielt habe.«
Sofort habe ich ein ungutes Gefühl in der Magengegend. Ich esse weiter meine Beeren, schmecke aber nichts mehr von ihrer Süße. M. hat Paragary’s am Nachmittag erwähnt, aber nicht gesagt, daß er mit Ian essen war. Ich bin mir sicher, daß sich die beiden nicht zufällig über den Weg gelaufen sind. Ich höre Ian schweigend zu. Von düsteren Vorahnungen geplagt, frage ich mich, was M. wohl vorhat.
An diesem Abend ziehe ich mich im Bad aus. Ich schlüpfe in ein Nachthemd mit langen Ärmeln, damit Ian die Brandmale und Striemen nicht sieht. Die anfängliche Spannung zwischen uns hat sich inzwischen gelegt, und wir fühlen uns in der Gegenwart des anderen wieder wohl. Ich beschließe, ihm Frannys Geschichten zu zeigen, »Wasserratte« und »Frannys letzter Kampf«. Daß ich die Texte von M. bekommen habe, verschweige ich ihm natürlich. Ian liest die beiden Geschichten schweigend und mit Tränen in den Augen. Hinterher nimmt er mich wortlos in den Arm, weil er weiß, daß Worte mir nicht helfen würden. In diesem Moment fühle ich mich Ian sehr nahe und begreife nicht, warum ich ihm die erste Geschichte nicht schon eher gezeigt habe.
Die ganze Nacht liege ich in seinen Armen und denke an Franny, M. und das Erziehungszimmer. Wenn Ian mich im Arm hält, fühle ich mich, als würde mir eine Gnadenfrist gewährt, ein paar Stunden Aufschub, die mir helfen werden, mein nächstes Martyrium mit M. durchzustehen. Bei Ian fühle ich mich sicher, bewege mich auf vertrautem Boden. Ich weiß,
was ich von ihm zu erwarten habe, und kann mich in der Berechenbarkeit seiner Normalität entspannen. M. saugt alles aus mir heraus, nimmt mir jede Energie, als wäre ich eine überbeanspruchte Batterie. Ich brauche Ian, um mich wieder aufzuladen. Er gibt mir die Kraft, eine weitere Dosis von M.s verführerischem Wahnsinn zu ertragen und meine Reise auf die dunkle Seite seiner Seele fortzusetzen.
27
Ich trage einen geblümten Baumwollrock, eine weiße, ärmellose Bluse und Sandalen – alles aus Respekt vor M. Mein Outfit ist nicht besonders sexy, bietet ihm aber auch keinen Anlaß, mich zu kritisieren.
»Warum tust du das?« frage ich ihn. Ich beziehe mich auf seine neue und, wie ich vermute, nicht ganz unschuldige Freundschaft mit Ian. Wir sitzen bei einem späten Mittagessen im Baker’s Square , meinem Lieblingscafé in Davis. Die Nebentische sind nicht besetzt, und einige Bedienungen, die ihre Mittagsschicht beinahe hinter sich haben, beeilen sich, die nebenbei anfallenden Arbeiten zu erledigen – Salz und Pfeffer auffüllen, Tische abräumen und neu decken, die smaragdgrünen Nischen sauberwischen –, um bald nach Hause gehen zu können. Ich esse nur eine Suppe und trinke eine Tasse Kaffee, M. hat sich gebratenes Huhn und eine Gemüseplatte bestellt.
»Um meinen Spaß zu haben«, sagt er wie erwartet. Er wechselt das Thema. »Ich gebe am Sonntag ein Konzert in der Crocker-Galerie. Ich hätte dich gern dabei.«
Ich gebe ihm keine Antwort, weil ich immer noch wütend bin, daß er mit Ian Kontakt aufgenommen hat. M. nimmt ein paar Bissen von seinem Essen, dann sagt er: »Schau nicht so bedrückt. Ich werde ihm nichts von uns erzählen – dein Geheimnis ist bei mir gut
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