Brennende Fesseln
hatte von meiner besten Freundin ein bißchen Mitgefühl erwartet. Rückblickend ist mir natürlich klar, daß ich sie alle überfordert habe. Sie waren schließlich erst siebzehn und mit sich selbst beschäftigt. Aber damals habe ich das nicht so gesehen. Ich wußte bloß, daß ich mich dem bisher größten Problem meines Lebens gegenübersah und niemanden hatte, der bereit war, mir zu helfen. Dabei hätte ich so dringend jemanden gebraucht. Ich fühlte mich allein, im Stich gelassen.« Ich lächle, versuche etwas zu bagatellisieren, das mir einmal sehr zu schaffen gemacht hat. »Ich weiß, es klingt melodramatisch«, sage ich, »aber damals habe ich das so empfunden. Meinen Eltern konnte ich es nicht erzählen. Ich wollte sie nicht enttäuschen. Ich bekam es mit der Angst zu tun, und schließlich dämmerte mir, in welcher Situation ich mich wirklich befand: Ich mußte das ganz allein durchstehen. Ich mußte die Sache irgendwie regeln. Ich konnte mich nicht darauf verlassen, daß mir irgend jemand helfen würde. Wie dem auch sei, jedenfalls ließ ich eine Abtreibung vornehmen. Damit war das Problem vom Tisch. Als ich die Abtreibung hinter mir hatte, waren meine Freundinnen plötzlich wieder zur Stelle. Sie wollten da weitermachen, wo wir aufgehört hatten. Ich sollte wieder mit ihnen Partys feiern, als wäre nichts
gewesen.« Ich beobachte die Fliege an der Fensterscheibe, die immer noch zu entkommen versucht, dann schnippe ich sie mit dem Finger weg. »Aber es war nicht mehr so wie vorher. Ich konnte nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Ich machte die High-School zu Ende, aber ich war eine andere geworden. Nach und nach eliminierte ich systematisch alle meine Freundinnen. Ich glaube nicht, daß ihnen bewußt war, was ich tat. Wenn sie anriefen, sagte ich, ich hätte keine Zeit. Nach einer Weile blieben die Anrufe aus. Genau das hatte ich beabsichtigt. Zumindest glaubte ich das damals.«
Achselzuckend füge ich hinzu: »Jedenfalls begann sich damals ein bestimmtes Verhaltensmuster abzuzeichnen. Als ich am College neue Leute, neue Freunde kennenlernte, war ich auf der Hut. Nicht nur bei Männern, auch bei Frauen. Ich wollte niemanden mehr an mich heranlassen. Am Ende würde ich doch nur wieder enttäuscht und verletzt werden. Ich war im Lauf der Zeit mit einigen Männern befreundet, hielt sie aber alle auf Distanz. Ich war mit meiner Arbeit ausgelastet, mein Beruf machte mir Spaß, und ich wollte nicht, daß mir da ein Typ in die Quere kam. In letzter Zeit frage ich mich manchmal, ob mein Leben anders verlaufen wäre, wenn ich damals nicht schwanger geworden wäre. Vielleicht wäre ich dann engere Beziehungen eingegangen. Aber das Muster hatte sich schon zu sehr eingeschliffen. Mit Ian ist es anders. Frannys Tod hatte mich verwundbar gemacht, und plötzlich war er da. Er hat mich davon überzeugt, daß ich ihm vertrauen, auf ihn zählen kann.«
Ich starre aus dem Fenster. Nach einer Weile wende ich mich wieder M. zu. »Das ist lange her«, sage ich. Mir geht durch den Kopf, daß ich, wenn die Dinge damals anders gelaufen wären, ein inzwischen achtzehnjähriges Kind hätte – älter, als ich zur Zeit der Abtreibung war. Ich kann mir das überhaupt nicht vorstellen: ein Kind, mein Kind, kurz vor dem Eintritt ins College. Und danach vielleicht ein Enkelkind. Nervös
zupfe ich an der Serviette auf meinem Schoß herum. Dann falte ich sie auseinander, streiche sie glatt. Ich überlege, ob ich M. den Rest der Geschichte erzählen soll. Aber ich tue es nicht.
Sein durchdringender Blick sieht mehr, als er soll. Er sagt: »Du verschweigst mir etwas.«
»Ja«, antworte ich, »aber ich will jetzt nicht darüber sprechen.«
M. beugt sich vor und legt seine Hand auf meine – eine rührende Geste, die mich überrascht. »Schon gut«, sagt er. »Aber eines Tages will ich den Rest der Geschichte hören.«
Er lehnt sich wieder zurück und sagt: »Es gibt noch etwas, das ich von dir wissen möchte. Beschreib mir die genauen Umstände von Frannys Tod. Die Details …«
»Die kennst du doch wohl besser als ich, oder?« unterbreche ich ihn kühl. Ich entziehe ihm meine Hand.
Ich entdecke einen Anflug von Verärgerung in M.s dunklen Augen, sehe, wie sich sein markant geschnittenes Kinn anspannt. Doch gleich darauf entspannt er sich wieder. Er spricht weiter, als sei nichts gewesen.
»In den Zeitungen war nie etwas über die genaueren Umstände ihres Todes zu lesen, und die Polizei war, wie du dir sicher vorstellen
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