Brennende Fesseln
nimmt die Krawatte ab. Dann streicht er sein blondes Haar zurück, aber es fällt ihm sofort wieder in die Stirn. Er nimmt eine Dose Cola aus dem Kühlschrank, schnappt sich die Pfanne mit dem Huhn und verschwindet nach draußen. Während ich die Tomaten und den grünen Salat schneide, höre ich ihn im Garten vor sich hin pfeifen. Ich muß lächeln. Er ist ein so umgänglicher, gutmütiger Mensch und fast immer guter Laune. Abgesehen von seinen gelegentlichen Eifersuchtsanfällen, gibt es an ihm keine dunkle oder geheimnisvolle Seite, keinen Drang nach verdeckten psychologischen Spielchen. Das Pfeifen bricht ab, und ich höre ihn über irgend etwas lachen. Dann beginnt er von neuem zu pfeifen – eine fröhliche Melodie, die ich nicht kenne.
Nach einer Weile kommt er zurück in die Küche, holt die braunen Teller aus dem Schrank und deckt den Tisch, während ich den Salat fertigmache. Er erzählt mir von dem Artikel, an dem er heute gearbeitet hat. Es geht um einen Abgeordneten, der eine Vorlage für ein Gesetz eingebracht hat, auf dessen Grundlage die Bevölkerung darüber entscheiden könnte, ob Kalifornien dreigeteilt werden soll. Ich höre ihm zu, aber seine Welt erscheint mir inzwischen Lichtjahre von meiner entfernt. Es fällt mir schwer, Interesse für die Staatspolitik
aufzubringen, solange meine eigenen Probleme so akut sind – aber über diese Probleme kann ich unmöglich mit ihm diskutieren. Statt dessen erzähle ich ihm von meinem Projekt zum Thema Gewalt in Sacramento, mit dem ich mich heute vormittag mal wieder herumgeschlagen habe.
»Ich bekomme es einfach nicht in den Griff«, erkläre ich. »Ein Mann hat mit dem Messer auf seine Frau eingestochen, dann mit einem Stein auf sie eingeschlagen und sie anschließend noch zweimal mit ihrem eigenen Wagen überfahren. Ein anderes, etwas älteres Ehepaar ist bei einem Überfall auf eine Bar erschossen worden. Der Täter hat die beiden praktisch hingerichtet – völlig grundlos. Sie hatten ihm alles gegeben, was in ihrer Kasse war. Und ein dreijähriges Mädchen kam ums Leben, weil zwei Ladendiebe auf der Flucht den Wagen, in dem es saß, umgerissen haben. Ich … ich komme einfach nicht weiter, Ian. Ich habe so etwas noch nie erlebt. Ich verfüge über alle nötigen Fakten, aber ich bringe sie nicht zusammen. Ich kann einfach keine Geschichte daraus machen.«
Ich erzähle Ian nicht von dem Gefühl der Verzweiflung und Sinnlosigkeit, das mich jedesmal befällt, wenn ich an der Story arbeite. Während ich die Fakten durchgehe – Akte der Gewalt gegen mir unbekannte Personen –, muß ich ständig an Franny denken. Ich wende jede Statistik auf ihren Fall an. Früher konnte ich solche Artikel lesen, ohne davon berührt zu werden. Jetzt nehme ich jeden Angriff persönlich, und das nimmt mir die Fähigkeit, darüber zu schreiben. Ich erzähle Ian nichts von dem Gefühl der Ohnmacht, das mich überkommt, wenn ich an meinem Computer sitze. Ich erzähle ihm nicht, daß ich die Welt nur noch durch eine blutverschmierte Brille sehe. Statt dessen gebe ich das Dressing über den Salat und verteile ihn auf zwei Schüsseln. Ich stelle die Schüsseln auf den Tisch.
Ian, der mir schweigend zugehört hat, will etwas sagen, überlegt es sich dann aber anders. Seine blauen Augen blicken mich besorgt an. Er geht hinaus, um nach dem Huhn zu sehen,
und als er wieder hereinkommt, sagt er mir, daß es noch ein paar Minuten braucht. Während ich eine Flasche Wein aufmache, legt er mir die Hände auf die Schultern.
»Liebling«, beginnt er sanft, und ich werde sofort argwöhnisch, »vielleicht solltest du aufhören, an dieser Story zu arbeiten. Du mußt endlich von diesen morbiden Gedanken wegkommen. Du siehst die Dinge nicht mehr objektiv. Die Verbrechensrate in Sacramento hat sich in den letzten paar Jahren kaum verändert, und sie ist nicht höher als in jeder anderen Stadt dieser Größenordnung – das kommt dir nur so vor, weil du mehr darauf achtest, seit deine Schwester ermordet wurde.«
Ich reiche Ian die Weinflasche und zwei Gläser. »Stell sie auf den Tisch«, sage ich und verlasse die Küche. Ich weiß, daß ich auf ihn hören und seinen Rat befolgen sollte, aber ich kann nicht. Ich wünschte, er wäre energischer und würde seinem Wunsch mehr Nachdruck verleihen. Wenn er darauf bestehen würde, daß ich mit der Arbeit an dem Artikel aufhöre, wenn er es kategorisch von mir verlangen würde, würde ich vielleicht auf ihn hören. Herrisches Durchgreifen
Weitere Kostenlose Bücher