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Brennende Fesseln

Brennende Fesseln

Titel: Brennende Fesseln Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Reese
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Trotzdem geht sie weiter hinein, zwingt sich, die Kälte zu ignorieren. Ein Brecher spritzt ihr salziges Wasser über den Kopf, Seetang schlingt sich um ihre Beine. Als der nächste Brecher kommt, taucht sie unter und läßt ihn über ihren Körper hinwegdonnern. Bibbernd kommt sie wieder hoch. Das tropfnasse Haar hängt ihr bis fast auf die Schultern herab. Ein weiterer Brecher begräbt sie unter sich, zieht sie weiter ins Meer hinaus. Als sie diesmal auftaucht, hat sie keinen Boden mehr unter den Füßen. Wassertretend wartet sie auf die nächste Welle. Sie hat mit diesem Spiel schon vor mehreren Monaten begonnen: herauszufinden,
wie weit sie gehen wird; zu sehen, ob der Ozean ihr so viel angst machen kann, daß sie alles vergißt, die guten und die schlechten Erinnerungen. Sie wünscht sich eine Welle, die so groß und erschreckend ist, daß sie sie in ein schwarzes Loch der Angst saugt und jede Erinnerung auslöscht. Aber jedesmal, wenn sie hier herausfährt, wird es schwieriger, dieses schwarze Loch zu erreichen, und jedesmal muß sie sich zwingen, einen Schritt weiter zu gehen.
    Über ihr schreit eine Möwe. Eine kleine Welle zieht sie nach unten, schlägt über ihrem Kopf zusammen. Sie spürt das Wasser zwischen ihren Zehen und Fingern. Es bahnt sich einen Weg in jede Pore, jede Öffnung ihres Körpers. Das Wasser umgibt sie von allen Seiten, erdrückt sie wie die Erinnerung an Billy. Ein Stück Seetang streicht ihr übers Gesicht, und sie sieht wieder Billys Finger in der losen Erde kratzen. Erneut stürzen seine letzten Worte auf sie ein, die angsterfüllte, weinende Stimme, die sie anfleht, nicht loszulassen. Sie hört sie noch immer in ihren Träumen. Im Traum hebt und senkt sich seine Stimme wie Ebbe und Flut, nur nicht so sanft, eher wie eine gewaltige Flutwelle. Und wie das Wasser die Felsen zermalmt, so zermalmt er sie, reißt sie in Fetzen, Stück für Stück. Sie läßt sich nach oben treiben, durchbricht unsanft die Wasseroberfläche und tritt dann im Kreis, wartet auf die nächste Welle. An der Küste steht eine Reihe schäbiger Häuser, zwischen denen hier und da eine häßliche Lücke klafft. Sie sehen aus wie eine Reihe krummer, verfärbter Zähne. Je weiter sie hinaustreibt, desto kleiner werden die Häuser.
    Sie wirft einen Blick über die Schulter und sieht eine riesige Welle herandonnern. Plötzlich ist sie da, türmt sich über ihrem Kopf auf. Einen Moment lang scheint die Zeit stillzustehen, und die Welle hängt wie eine Drohung in der Luft. Sie spürt, wie sich ihr Magen vor Angst zusammenkrampft, ehe die Welle über ihr einstürzt und sie mit schrecklicher, alles zerschmetternder Kraft unter Wasser drückt. Sie spürt, wie es sie
immer tiefer hinunterzieht, bis sie plötzlich einen Rückwärtspurzelbaum schlägt und kopfüber ins offene Meer hinausgesaugt wird. Das ist genau das, was sie will. Sie will, daß die Angst alles in ihr ausmerzt: daß all ihre Gedanken, all die Bilder in ihrem Kopf vom Meeresgrund aufgesogen werden.
    Von allen Seiten stürzt Wasser auf sie ein, zerrt und reißt an ihrem Körper, zieht sie nach unten. Ihr geht die Luft aus, und plötzlich gerät sie in Panik. Sie vergißt alles, sogar Billy, und will nur noch überleben. Ihr Bein kratzt über den Meeresboden, und sie gräbt verzweifelt die Finger in den Sand, findet aber keinen Halt. Erneut reißt das Wasser sie mit sich fort, und sie überschlägt sich immer wieder, während die Unterströmung sie mit sich zieht. Sie versucht nach oben zu schwimmen und mit ausgestreckten Armen die Wasseroberfläche zu erreichen, aber die durcheinanderwirbelnden Wassermassen drücken sie immer wieder nach unten. Ihre Lunge beginnt zu schmerzen, und sie rudert wild mit Armen und Beinen, schlägt hilflos um sich. Verzweifelt versucht sie, irgend etwas zu fassen zu bekommen, egal was, aber da ist nichts. Es kommt ihr so vor, als versuche sie das schon ihr Leben lang. Ihre Augen brennen vom Salzwasser, und ihr Körper fühlt sich an, als bestünde er nur noch aus blauen Flecken. Gerade als sie das Gefühl hat, daß ihre Lunge gleich platzen wird, durchbricht ihr Kopf die Wasseroberfläche. Keuchend ringt sie nach Luft. Ihre Brust hebt und senkt sich wie wild. Dann bricht sie in Tränen aus. Sie empfindet nur noch Angst und Schmerz, aber vor allem Angst, immer größere Angst. Ihre Tränen fallen unbemerkt ins Wasser. Das Wasser umspült sie, klatscht ihr ins Gesicht, erstickt ihr Schluchzen, erstickt ihren Schmerz. Immer noch

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