Brennende Fesseln
Franny ein Foto von Ihnen gezeigt.«
Ohne mich aus den Augen zu lassen, probiert er die Sauce, runzelt die Stirn, fügt eine Prise Gewürz hinzu. Er stülpt den Deckel wieder auf den Topf und wendet sich mir zu. Gegen die Arbeitsplatte gelehnt, verschränkt er die Arme, legt den Kopf schräg und lächelt ein ganz klein wenig. »Franny hat mir eine Menge von Ihnen erzählt. Mehr, als Ihnen lieb sein dürfte, da bin ich mir sicher.«
Vor Schreck weiß ich nicht, was ich sagen soll. Ich kann einfach nicht glauben, daß er die ganze Zeit gewußt hat, wer ich bin. Wir starren einander wortlos an. Ich bin immer noch wie vom Donner gerührt, er ist nur amüsiert. Er blickt auf mein Weinglas hinunter und sieht, daß es leer ist. Er holt die Weinflasche, zieht den Korken heraus und macht einen Schritt auf mich zu. Reflexartig erstarre ich. Er merkt, daß ich Angst habe, und lächelt. Dann schenkt er mir nach.
»Wie hatten Sie sich das vorgestellt?« fragt er, und es klingt, als würde er sich nach der Uhrzeit erkundigen. »Warum sind Sie hier?«
Ich sage ihm die Wahrheit. »Ich möchte mehr über Sie erfahren. Ich glaube, daß Sie meine Schwester getötet haben.«
Ich rechne damit, daß M. beleidigt oder zornig reagiert, aber er zieht nur interessiert eine Augenbraue hoch. »Sie wissen natürlich, daß die Polizei Ihre Meinung nicht teilt.«
»Es liegen keine Beweise gegen Sie vor – das ist alles, was ich weiß.«
Er nickt nachdenklich. »Dann sind Sie also hergekommen, um… was zu tun? Beweise zu sammeln? Den Mörder zu entlarven ?« Er macht sich über mich lustig.
»Ja«, antworte ich. Ich versuche mir meine Wut nicht anmerken zu lassen.
»Was, wenn ich Ihnen sagen würde, daß ich sie nicht umgebracht habe? Würden Sie mir glauben?«
»Nein.«
»Aha«, sagt er langsam. »Das habe ich mir gedacht.« Er geht zum Kühlschrank hinüber und nimmt einen Salatkopf, Schalotten, Tomaten und marinierte Pilze heraus. Er wäscht die Tomaten und fängt an, sie in schmale Scheiben zu schneiden. Seine Unbekümmertheit treibt mich zur Weißglut. Ich erwarte eine Reaktion von ihm.
»Sie hat ein Tagebuch geführt«, sage ich. »Sie hat über Sie geschrieben. Ich weiß, was Sie ihr angetan haben.«
»›Franny’s File‹«, sagt er und schneidet weiter Tomaten. »Die Polizei hat es mir gegenüber natürlich erwähnt, aber ich wußte schon vorher davon. Von Franny.« Er blickt zu mir auf. »Und ich bezweifle, daß Sie tatsächlich wissen, was ich ihr angetan habe. Wenn Sie es wüßten, wären Sie jetzt nicht hier.«
»Ich habe vor, es herauszufinden.«
»Wirklich?« Es klingt wie eine Herausforderung. Er holt eine Holzschüssel für den Salat und schüttet die Tomaten und die Pilze hinein. Dann schneidet er die Schalotten in Scheiben. »Wie wollen Sie das anstellen?«
Ich weiß es nicht mehr. Mein Plan war, Frannys Stelle einzunehmen. Möglichst viel über M. herauszufinden und ihn irgendwie dazu zu bringen, daß er sich selbst verrät. Jetzt weiß ich nicht mehr, was ich tun soll. Währenddessen ist er mit dem Salat beschäftigt. Er zerreißt die Salatblätter, als wäre dies eine freundschaftliche Verabredung zum Abendessen.
»Wenn Sie tatsächlich glauben, daß ich Franny getötet habe, dann sollten Sie sich von mir fernhalten.« Er nippt an
seinem Weinglas und betrachtet mich mit sorgloser Lässigkeit. »Was soll mich daran hindern, auch Sie zu töten?«
Darüber habe ich bereits nachgedacht. Er ist ein kluger Mann, und genau das schützt mich vor ihm. Bei der Polizei weiß man von meinem leidenschaftlichen Wunsch, ihn hinter Gitter zu bringen, und wenn mir an diesem Abend oder irgendwann später etwas zustoßen sollte, wird man sich sofort auf ihn stürzen. Das wäre zuviel des Zufalls: zwei Schwestern, derselbe Mann. Als ich ihm das sage, nickt er.
»Ja, im Falle Ihres Todes sollte ich mich um ein gutes Alibi kümmern, nicht wahr?«
Seine Worte lassen mich erstarren. Obwohl Frannys Leiche schon am Verwesen war, als man sie fand, konnte der Gerichtsmediziner von Yolo County den ungefähren Zeitpunkt ihres Todes bestimmen, indem er einen Natriumchloridtest an ihren Augen durchführte und die Glaskörperflüssigkeit analysierte, die klare, gallertartige Masse hinter der Linse. Außerdem bestimmte er den Grad des Insektenbefalls und der Vewesung. Weitere Hinweise lieferte der Tatort – die Einkaufsquittungen auf der Küchentheke, die Post in ihrem Briefkasten, die nicht abgehörten Anrufe auf ihrem
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