Brennende Fesseln
mich in mein Sirenen-Outfit, mit dem es mir garantiert gelingen wird, den Mann zu betören und anschließend in sein Verderben zu locken – ein enganliegendes rotes Strickminikleid mit einem Rückenausschnitt bis zur
Taille. Ich schminke mir die Lippen maraschinokirschrot, schlüpfe in hohe Schuhe und greife nach meinem Mantel.
Kurz vor sieben fahre ich zu seinem Haus hinüber und bleibe noch ein paar Minuten in meinem Wagen sitzen, einem kastanienbraunen Honda Accord. Die Nacht ist blauschwarz, der Himmel glänzt wie Tinte, und die Büsche und Bäume haben ohne die Sonne ihre Farbe verloren. Nach Einbruch der Nacht hat man in Willowbank ein bedrückendes Gefühl von Enge. Eine Art Dämmerungsklaustrophobie setzt ein. Über den Straßen verflechten sich Äste und Ranken zu düsteren Lauben. Mauern aus dichten, undurchdringlichen Hecken bilden einen grünen Schild, der einen von allen Seiten umgibt und einschließt. Ich denke an das, was ich vorhabe. Noch könnte ich heimfahren und ihn der Polizei überlassen, wie Ian es mir so viele Male geraten hat. Aber noch während ich das denke, öffne ich die Wagentür und steige aus. Ich gehe den langen Kiesweg zum Hauseingang hinauf und läute an der Tür. Von drinnen dringt Licht durch die zugezogenen Vorhänge und bringt das ganze Aussichtsfenster zum Leuchten. Über der Tür scheint ein Bewegungsmelder auf mich herunter und taucht meine Hände in gelbes Licht. Während ich unter der Lampe warte, spüre ich die kalte Nachtluft auf der Haut.
M. öffnet die Tür. Er begrüßt mich mit einem warmen Lächeln und bittet mich herein. Ich spüre ein nervöses Flattern in der Magengegend. Das ist der Mann, der höchstwahrscheinlich meine Schwester umgebracht hat. Er ist groß, sein dichtes, dunkles Haar fällt ihm widerspenstig in die Stirn, und er trägt Schwarz: schwarze Lederschuhe, eine schwarze Hose, einen schwarzen Kaschmirpulli. Er wirkt auf eine zurückhaltende Weise elegant. Um sein Handgelenk schmiegt sich eine einfache goldene Uhr.
In der Diele habe ich ein unangenehmes Déjà-vu-Gefühl. Sein Haus ist genauso, wie Franny es in ihrem Tagebuch beschrieben hat. Er nimmt meinen Mantel und führt mich
herum – aber ich weiß schon vorher, was mich erwartet: erdige Töne, Hartholzböden, weite Räume, bequeme Möbel. Es ist das Haus eines allein lebenden Mannes, der alles im Griff hat, ohne Chaos oder Durcheinander. Ich blicke durch die Glastüren auf seinen Garten hinaus und sehe die schwarze dänische Dogge durch die Dunkelheit trotten. M. erzählt mir, daß der Hund Rameau heißt, nach einem französischen Komponisten des Spätbarock. Wir gehen in die Küche. Sie ist ordentlich aufgeräumt und mit modernen Geräten und Möbeln ausgestattet, die bestimmt nicht zur ursprünglichen Einrichtung des Hauses gehört haben. Während er das Abendessen vorbereitet, plaudere ich mit ihm, wobei ich im Geiste jedes seiner Worte notiere. Vor gespannter Erwartung sind meine Sinne geschärft, registrieren jede seiner Schwingungen. Vielleicht irre ich mich, aber ungeachtet seiner lockeren Art scheint mir jedes seiner Worte und jede seiner Gesten von besonderer Wichtigkeit und mit verborgenen Bedeutungen befrachtet zu sein.
Dieser Mann ist ein Mörder, denke ich und versuche, die Nervosität aus meiner Stimme herauszuhalten. M. bewegt sich geschmeidig durch den Raum. Er ist ganz in seinem Element. Gelassen schenkt er uns je ein Glas Weißwein ein und geht dann zum Herd zurück, um unter die Deckel mehrerer Töpfe zu spähen. Seine Freundlichkeit verwirrt mich ein wenig. Er wirkt fast sympathisch. Das hatte ich nicht erwartet. Ich frage ihn, was er kocht.
»Lachsfilets«, erklärt er. »Gleich werde ich sie grillen.« Er hebt die Deckel von den Töpfen. »Eine Dillsauce zum Fisch, Spargel mit Cashewbutter, in Ingwer gedünstete Karotten.« Er sieht zu mir herüber. »Eine Nachspeise habe ich nicht vorbereitet. Franny hat mir erzählt, daß Sie keine Süßigkeiten essen.«
Beim Klang ihres Namens erstarre ich. Dann schlucke ich langsam den restlichen Wein und stelle mein Glas auf den gefliesten
Tresen. Instinktiv schätze ich die Entfernung bis zur Tür ab.
»Wie haben Sie es herausgefunden?« frage ich. Mir versagt fast die Stimme.
Er nimmt einen Holzlöffel und rührt in der Sauce. »Sie sind keine sehr gute Detektivin. Ich habe mitbekommen, daß Sie mir überallhin gefolgt sind. Sie sind ein paarmal zu oft aufgetaucht, als daß es Zufall hätte sein können. Außerdem hat mir
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