Brennende Fesseln
Er hat mir beim Umzug geholfen und beklagt sich nie darüber, daß wir jetzt weiter voneinander entfernt wohnen. Wir sehen uns mehrmals die Woche, und wenn ich mit Ian zusammen bin, fühle ich mich wohl. Er ist ein mitfühlender, intelligenter, ausgeglichener Mensch. Ich stelle fest, daß sich meine Einstellung zu Männern seit Frannys Tod geändert hat. Ich weiß, daß sie der Meinung war, daß ich mit meinen Freunden leichtfertig umging, und vielleicht war das auch so. Aber mit Ian ist es etwas anderes. Er bedeutet mir wirklich etwas, und vielleicht entwickelt sich mehr daraus.
Letzte Nacht ist er hiergeblieben, und jetzt steht er im Bad und rasiert sich. Ich lese Zeitung und schneide die Artikel aus, in denen über Gewalttaten in Sacramento berichtet wird. Im
Land Park sind zwei Teenager durch Schüsse aus einem vorbeifahrenden Auto verletzt worden. In Franklin Villa ist ein Mann aus seinem Haus gezerrt und brutal verprügelt worden. In der 14th Avenue wurde eine Frau tot aufgefunden. Sie ist mit drei Kugeln getötet worden, und neben ihrer nackten Leiche hat man einen Stapel Kleider gefunden. Ich habe angefangen, Artikel über Gewalt, Tod und Zerstörung zu sammeln. Ich bin mir noch nicht sicher, was ich damit anfangen werde – vielleicht schreibe ich einen Artikel über die anwachsende Welle der Gewalt und reiche ihn beim Bee ein.
Ian tritt hinter mich und legt mir die Arme um den Hals. Er beugt sich zu mir herunter und küßt mich auf die Wange. Er riecht gut nach Rasierwasser, und seine Lippen sind zart und glatt wie Blütenblätter. Wenn man ihn so sieht, mit seinem kantigen Gesicht und der krummen Nase, die irgendwann mal gebrochen war, würde man nicht erwarten, daß seine Lippen so weich sind. Er ist ein paar Zentimeter größer und ein paar Jahre jünger als ich, und selbst jetzt, wo er einen dunklen Anzug trägt, weil er gleich einen Termin mit einem Politiker hat, wirkt er mit seinem bulligen, starken Körper und den kurzen Fingern frisch und natürlich wie ein Bauernjunge. Sogar sein blondes Haar hat die Flachsfarbe einer Getreideähre. Er ist ein gutherziger Mann, offen und einfach. Früher fand ich ihn immer ein bißchen langweilig, aber seit Frannys Tod habe ich sein unerschütterliches Wesen zu schätzen gelernt.
Seine Hilfsbereitschaft hat nur dort ein Ende, wo es um M. geht. Als ich ihm vor Monaten erzählte, daß ich M. hinterherspioniere, hatte er einen seiner seltenen Wutanfälle.
»Warum tust du das?« fragte er aufgeregt, während er mit rotem Gesicht im Raum auf und ab lief. »Warum kannst du den Mann nicht in Ruhe lassen?«
»Weil er meine Schwester getötet hat.«
Ian ballte die Hände, bis die Knöchel weiß hervortraten. »Überlaß das doch der Polizei. Halt dich von ihm fern.«
Ich konnte nicht verstehen, warum er das sagte – eigentlich sollte er mir doch dabei helfen, Frannys Mörder zu finden, und mich nicht entmutigen. »Das kann ich nicht«, antwortete ich.
Er stürzte aus dem Haus, schlug die Tür hinter sich zu. Ich weiß nicht, warum er so heftig reagiert hat, vermute aber, daß er eifersüchtig ist, weil ich M. so viel Zeit widme. Seitdem erwähne ich den Namen nicht mehr. Ian weiß nicht, wie M. aussieht, und ist auch nicht daran interessiert, es herauszufinden. Er weiß weder, daß ich M. nach wie vor durch die Stadt folge, noch, daß ich Frannys Geschichte schreibe. Er weiß nicht, daß ich M. gestern im Fluffy’s getroffen habe, und er weiß definitiv nichts von meiner Verabredung heute abend.
Ich bin schon den ganzen Nachmittag zappelig. Ich hintergehe Ian nur ungern, aber ich weiß, daß er meinen Plan in Sachen M. nicht gutheißen würde. Ständig denke ich darüber nach, wie es M. gelungen ist, den perfekten Mord zu begehen. Nachdem die Polizei Frannys Tagebuch gelesen hatte, wurde er sofort verhaftet. Er gab seine Vorliebe für Fesselungspraktiken und Flagellation offen zu, stritt aber ab, meine Schwester getötet zu haben. Da er keine Vorstrafen hatte und noch nie wegen Gewalttätigkeit aufgefallen war und da zudem keinerlei Beweise dafür vorlagen, daß er zur Tatzeit in Frannys Wohnung gewesen war, mußten sie ihn wieder auf freien Fuß setzen. Ich ließ mir eine Kopie des Polizeiberichts geben und zog meine eigenen Schlüsse. Ich weiß noch nicht, wie er es getan hat, aber M. ist für ihren Tod verantwortlich.
Als ich aus der Dusche komme, überlege ich, was ich anziehen soll. Ich möchte M. möglichst durcheinanderbringen. Also zwänge ich
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