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Brennende Fesseln

Brennende Fesseln

Titel: Brennende Fesseln Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Reese
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und drohte am Ende jedes Satzes zu versagen.
    Ian stand auf. Zögernd streckte er wieder die Arme aus, und diesmal schob ich ihn nicht weg. Er drückte mich an seine Brust, streichelte mein Haar und machte: »Schhh, schhh!«, obwohl ich keinen Laut von mir gab.
    Ich stand da, den Kopf an die Brust dieses schwarzgekleideten Mannes gelehnt, der noch kurz zuvor fast ein Fremder für mich gewesen war, und ließ mich von ihm trösten. Mit der flachen Hand streichelte er über meinen Kopf und brachte mein Haar noch mehr durcheinander, als es ohnehin schon war. Seine Hand war so groß, daß sie zu einem Riesen zu gehören schien.
    »Ich weiß durchaus, wie das ist«, entgegnete er sanft. »Ich
habe lange gebraucht, bis ich Cheryls Tod verwunden hatte. Ich bin immer noch nicht ganz darüber hinweg. An dem Tag, an dem sie getötet wurde, hatten wir uns gestritten. Ich war so wütend auf sie. So…« Ian schüttelte den Kopf. »Ich weiß, daß dir das jetzt nichts hilft«, fügte er hinzu, »aber mit der Zeit wird es leichter.«
    »Nein«, widersprach ich. »Es wird nicht leichter. Ich lasse nicht zu, daß es leichter wird. Nicht, bis ich herausgefunden habe, wer sie umgebracht hat.«
    Abrupt schob Ian mich weg. Ich blickte überrascht zu ihm auf. In seinen Augen sah ich etwas Seltsames – etwas wie Wut, aber irgendwie noch mehr.
    Zwischen zusammengebissenen Zähnen stieß er hervor: »Du wirst wegen Franny nichts unternehmen. Die Polizei wird sich darum kümmern. Hast du mich verstanden?«
    Verblüfft über seinen Ausbruch, sagte ich kein Wort.
    »Hast du mich verstanden?« wiederholte er mit erhobener Stimme. Die Worte zischten wie Peitschenhiebe aus seinem Mund.
    Ich wich ein paar Schritte zurück. Wie konnte er mich an einem solchen Tag anschreien? Ich hatte mehr Verständnis von ihm erwartet.
    Ian bedauerte sein Verhalten sofort. »Entschuldige bitte«, sagte er. »Ich wollte nicht so aufbrausend sein. Es ist nur…« Er zögerte, setzte dann von neuem an. »Cheryl hat mir so viel bedeutet. Daß sie auf diese Weise sterben mußte, war hart für mich. Und jetzt die Sache mit dir, die letzten paar Tage…« Er sprach den Satz nicht zu Ende. »Kann sein, daß ich überreagiere, aber ich will einfach nicht, daß dir etwas passiert. Es könnte gefährlich sein, nach ihrem Mörder zu suchen. Du mußte das der Polizei überlassen. Hast du mich verstanden?«
    Ich nickte, immer noch verwirrt über seinen Ausbruch. Dann ließ ich meinen Blick durchs Zimmer schweifen, starrte verzweifelt auf meine verstreuten Kleider. Ich mußte mich für
Frannys Beerdigung fertigmachen, fühlte mich aber nicht in der Lage, mich zu bewegen. Wieder mußte ich an die Art denken, wie Franny getötet worden war, und ich biß mir auf die Unterlippe.
    »Laß das bleiben«, sagte Ian mit fester Stimme. »Du blutest ja.« Vorsichtig befreite er meine Unterlippe aus meinem Biß und wischte mir mit seinem Taschentuch den Mund ab. Ich schluckte meine Erinnerungen an Franny herunter, und mit ihnen den ganzen Schmerz. Er verschwand in dem Moment, als ich den mahnenden Ton in Ians Stimme hörte: Laß das bleiben. Ich begrub den Schmerz irgendwo in meinem Innern, an einem sicheren, unerreichbaren Ort. Von da an spürte ich nichts mehr. Ich kapitulierte, überließ alles Ian. Wie betäubt stand ich vor ihm; er zog mich fertig an und redete mit leiser, beruhigender Stimme auf mich ein, als wäre ich sein Kind.
    Während der Beerdigung hielt Ian meine Hand. Ich fühlte mich wie gelähmt und achtete kaum auf die Worte, die der Priester sprach, obwohl mein Blick an seinen Lippen hing. Als wir auf den Friedhof hinaustraten, klammerte ich mich immer noch an Ian, weil ich das Gefühl hatte, daß ich, wenn ich seine Hand verlor, auch mich selbst verlieren würde. Irgendwann ging mir durch den Kopf, wie seltsam es war, daß ich mich an ihm festhielt und nicht an einer engen Freundin wie Maisie. Dann fiel mir Cheryl Mansfield wieder ein, und es erschien mir passend, daß der Tod mich und Ian zusammengebracht hatte. Außer Ian konnte niemand auf der Beerdigung wirklich verstehen, wie ich mich fühlte. Jemanden durch einen brutalen Mord zu verlieren, wie ich Franny verloren hatte, und Ian Cheryl, ist etwas ganz anderes, als jemanden durch eine Krankheit, einen Unfall oder Altersschwäche zu verlieren.
    Ich bewegte mich wie eine Schlafwandlerin und sehnte das Ende der Beerdigung herbei. Ich hatte eine einfache Zeremonie erwartet, bei der Frannys Freunde und ein paar von

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