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Brennende Kälte

Brennende Kälte

Titel: Brennende Kälte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Schorlau
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ihre Tour zu gehen.
    Er betrachtete ihre rechte Hand. Olgas Zeigefinger war genauso lang wie ihr Mittelfinger. Zärtlich küsste er ihn. Als Kind hatte man diesen Finger gestreckt. Es musste sehr schmerzhaft gewesen sein, aber es war die perfekte Vorbereitung auf eine Kindheit als Taschendiebin.
    Sie sprach niemals über diese Zeit, und deshalb stellte sich Dengler ihre frühen Jahre als Horror vor. Später war sie vor der Bande, die sie ausgebeutet hatte, geflohen, aber ihre Fähigkeit hatte sie behalten: Niemand konnte so schnell und unbemerkt jemandem eine Brieftasche oder einen Geldbeutel abnehmen wie Olga. Sie war eine Meisterdiebin.
    Dies war der Grund, warum er sich vor ihren Reisen fürchtete: Er wusste, dass sie dann wieder auf einen ihrer Raubzüge ging. Wenn ihr das Geld ausging, verschwand sie, und wenn sie zurückkam, tat sie, als sei nichts geschehen.
    Olga konnte man mit Geld nicht beeindrucken.
    »Wenn das Geld knapp wird«, hatte sie einmal zu ihm gesagt, »dann laufe ich ein- oder zweimal durch das Foyer eines großen Hotels – und schon reicht es wieder für drei Monate.«
    Einerseits bewunderte Dengler sie für dieses gesetzlose Leben, andererseits fühlte er sich schuldig, dass er es nicht schaffte, sie von diesem Leben als Diebin zu befreien. Seine Geschäfte liefen nun besser, sicher, er bekam Aufträge, hin und wieder sogar gut bezahlte – aber einer, nach dem er »ausgesorgt« hätte, war noch nie darunter.
    Aber er scheute sich, ihr etwas über Noltes Angebot zu erzählen. Er war der einzige Mann auf der Welt, der sich vor den Moralpredigten einer Diebin fürchtete.

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    Wut
    Nachts war es kein Problem. Nachts hatte er keine Angst. Nachts war er wach.
    Er hatte den Mann mit dem albernen roten Auto gesehen. Hatte ihn beobachtet, wie er vor ihrem Haus geparkt hatte. Und wie er nach anderthalb Stunden wieder herauskam.
    Hatte er sich doch gedacht, dass diese Nutte sich verhielt wie eine Nutte.
    Er lachte bitter. Diese Liebesschwüre. Gut, dass er nicht mehr daran glaubte. Erst hatte er gedacht, dass es an ihm lag, dass alle Liebe in ihm tot war. Aber er hatte gespürt, er hatte es gewusst, dass sie sich gleich einen anderen ins Bett ziehen würde.
    Das wird sie bereuen.
    Und der Typ in dem lächerlichen roten Auto auch.
    Der zuerst.
    Nachts war das kein Problem.
    Gestern aber hatte er versucht, am helllichten Tag durch die Stadt zu gehen.
    Zunächst war das ganz einfach. Bis er die gelben Säcke gesehen hatte.
    An jeder Ecke gelbe Säcke.
    Er ertrug es nicht.
    Den ersten kickte er schnell zur Seite. Kein Sprengsatz dahinter.
    Natürlich nicht, sagte er sich, ich bin ja in Deutschland.
    Aber dann, an dem nächsten Hauseingang: Dieser gelbe Sack sah so merkwürdig aus. Stand so schräg da. Das war doch auffällig. Der verbarg doch was.
    Mit drei schnellen Schritten war er dort gewesen und hatte den Sack von der Wand weggerissen.
    Nichts.
    Keine Bombe.
    Nichts.
    Gut.
    Wie sollte er denn unterscheiden, in welchem Sack eine Bombe steckt und in welchem nicht?
    Ein Rentner hatte ihn am Ärmel gezogen, als er den nächsten Müllbeutel auf die Fahrbahn kickte.
    Der lag jetzt im Krankenhaus.
    Nein, tagsüber war die Stadt zu gefährlich.
    Aber nachts war das kein Problem.
    Er legte einen Gang ein und verfolgte den Kerl in dem beschissenen roten Auto, der gerade seine Frau gefickt hatte.

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    Blutsbrüder
    »Immer fährst du diesen Umweg«, sagte seine Mutter, die praktisch denkende Bäuerin. Sie sagte es, noch bevor sie ihm einen guten Tag gewünscht hatte.
    Als würde sie ihm ansehen, aus welcher Richtung er ins Dorf gekommen war. Sie konnte es nicht wissen, denn Altglashütten lag an der breiten Straße, die vom Schluchsee nach Bärental führte und sich dort verzweigte: Eine Richtung führte zum Feldberg hinauf und die andere nach Titisee hinunter. Aus dieser Richtung, über die neue Strecke von Titisee, fuhren die meisten, die Touristen, aber auch die Einheimischen. Sie war die schnellste Verbindung ins Dorf und die am besten ausgebaute Straße. Vom Dengler-Hof aus konnte man nicht auf diese Straße sehen. Nur bis zur Einfahrt reichte der Blick.
    Aber seine Mutter hatte recht. Auch diesmal hatte er einen anderen Weg gewählt. In Neustadt war er bereits abgebogen, durchquerte den Ort, fuhr an den abgebrannten Überresten der Lila Eule vorbei, früher der einzige Nachtclub weit und breit. Unwillkürlich gab er Gas. In seiner Kindheit waren die Jugendlichen von Neustadt die natürlichen

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