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Brennende Kälte

Brennende Kälte

Titel: Brennende Kälte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Schorlau
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in der letzten Woche ihren Grauen Star habe operieren lassen. Unten in Freiburg sei sie gewesen. In der Universitätsklinik. Fragte, was sie zum Mittagessen kochen sollte. Wie wäre es mit Schweinelenden und Bratkartoffeln? Oder wolle er lieber Spätzle? Sie habe noch zwei Portionen in der Truhe. Handgeschabt. Und dazu einen Salat. Frisch aus demGarten. Mit Zitrone angemacht. Und immer eine Prise Zucker dazu. Und dann jammerte sie über die roten Nacktschnecken. So viele wie in diesem Jahr habe es noch nie gegeben. Das liege an dem warmen Winter. So warm wie dieser Winter! Nein, da kann ich mich gar nicht erinnern, dass wir schon einmal einen so warmen Winter gehabt haben. Bierfallen habe ich aufgestellt wegen der Schnecken. Und einen Schneckenzaun um die beiden Salatbeete hat mir der Herr Below gebaut, der freundliche Nachbar, der vor sechs Jahren in den Ort gezogen ist. Du erinnerst dich doch an den, Georg, oder? Der kauft mir doch mittwochs immer sechs frische Eier ab. Den kennst du doch, Georg. Du erinnerst dich doch, Georg, an den Herrn Below. Den Bart hat er jetzt abgenommen.
    Nein, Mutter, ich erinnere mich nicht. Ich erinnere mich nicht mehr an alles. Ich kenne unsere Geschichte nicht mehr ganz. Mir fehlt ein Name. Wie hieß der Junge, der damals bei uns in Ferien war? Sag es mir. Erzähl, was du weißt. All das sagte er nicht. Er dachte es.
    Und er dachte, wie bezeichnend das für sie war: die unaufhörlich redende Mutter. Der schweigende Sohn, der seinen eigenen Gedanken nachhing. Das Drama zwischen ihnen. Und keine Brücke. Nur beredte Sprachlosigkeit.
    * * *
    Nach dem Frühstück erledigte er kleine Arbeiten im Haus. Steckte eine neue Halogenlampe ein, die so klein war, dass die Mutter nicht damit zurechtkam. Ersetzte den Spiegel in einem der Gästezimmer. Schraubte eine neue Schuhablage zusammen, die der nette Herr Below von Ikea mitgebracht hatte. Hackte Holz im Hof.
    Gegen Mittag war er damit fertig. Die Sonne stand hoch am Himmel. Der Morgennebel hatte sich aufgelöst. Es war warm. Heute war, nach langer Zeit, wieder einmal ein schöner Sonnentag. Er hängte die Axt in die Halterung imGeräteschuppen und stapelte die frischen Holzscheite dahinter auf. Aus der Küche zog Bratenduft herüber.
    Unschlüssig wandte er sich um. Doch dann ging er an dem alten Stall vorbei hinaus auf den Winterberg. Er brauchte über den Weg nicht nachzudenken. Es zog ihn den schmalen Pfad hinauf. An dem Haus der Verbindungsstudenten vorbei. Bis dorthin, wo die Laubbäume aufhörten und das Reich der Fichten begann. Noch ein Stück den Weg entlang. Sieh an, eine neue Schonung. Die kannte er noch nicht. Dengler bahnte sich einen Weg durch die jungen Bäume und fand, was er suchte.
    Die große Tanne stand noch immer in der Mitte. Die Königin aller Tannen. Die anderen Bäume gruppierten sich in einem großen Kreis um sie herum. Die große, alte, mächtige Tanne. Mit ihren unzähligen Ästen. So viele Äste und alle so nahe beieinander. Als Kind konnte er, wenn er nur erst mal den unteren Ast erklettert hatte, bequem über die folgenden wie auf einer Leiter bis in den Wipfel steigen.
    Dengler griff nach dem untersten Ast und zog sich hoch. Wie er es als Kind gemacht hatte. Stieg Ast um Ast hinauf. Er keuchte, als er oben ankam. Mit der Ellenbeuge umarmte er den dünn gewordenen Stamm und hielt sich so fest. Die andere Hand legte er über die Stirn. Endlich konnte er den ganzen Ort übersehen. Das Paradies seiner Kindheit.
    Ein Windstoß erfasste den Baum, und Dengler schwankte mit dem Wipfel. Er jauchzte. Er schrie. Er winkte. Niemand sah ihn.
    Bedenklich schwankte der Wipfel zur Seite und wieder zurück. Beugte sich, als wollte er seine Last abwerfen. Dengler schrie vor Vergnügen. Und vor Verzweiflung.

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    Fußspuren
    Auf der Rückfahrt rief ihn der Sicherheitschef des Versicherungskonzerns an, für den er zuletzt einen größeren Auftrag erledigt hatte. Sie seien mit seiner Arbeit sehr zufrieden. Positiv – das war offenbar sein Lieblingsbegriff. Denglers Abschlussbericht habe eine positive Resonanz gefunden. Der Bezirksdirektor selbst habe sich positiv geäußert. Es gäbe da einen neuen Fall. Ob Dengler noch Kapazitäten frei habe? Die gleichen Konditionen? Könne man sich morgen treffen? Zum Mittagessen? Das wäre positiv.
    Dengler sagte zu. Kein Ausgesorgt-Fall. Das nicht, aber trotzdem gut bezahlt.
    Mit Sarah Singer hatte er noch nicht über die Bezahlung seiner Dienste gesprochen.
    Er griff nach seinem

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