Brennende Schuld
Küche kam, hatten Mutter und Onkel Jaume schon Stellung bezogen. Ich war überrascht, Jaume zu sehen. Er saß auf dem Stuhl und knackte Pistazien, schob sie in den Mund und kaute. Er war ganz damit beschäftigt, während Mutter mit verschränkten Armen am Spülbecken lehnte.
An jenem Morgen trug die Mutter einen Schottenrock, den ihr Jaume Prats gerade aus England mitgebracht hatte.
»Wo bist du gewesen?«, hatte die Mutter sie misstrauisch gefragt.
»Ich möchte ihn sehen«, sagte sie unnachgiebig.
Die Mutter schüttelte den Kopf. »Jetzt habe ich die Verantwortung, und du musst hören, was ich sage.«
»Ich muss ihm was sagen«, rief sie aufgeregt.
»Er ist tot«, sagte die Mutter. »Setz dich. Du brauchst heute und morgen nicht zur Schule. Er ist tot.«
Sie setzte sich. Es war still in der Küche, nur das Knacken und Kauen der Nüsse war laut.
»Papi hat gesagt, er wird mich informieren, wenn etwas Besonderes ist«, beharrte sie und fing an zu weinen, weil sie immer mehr der Meinung war, die Mutter und Onkel Jaume hätten sich etwas Ungeheuerliches ausgedacht. Sie sagten, ihr Papi sei tot, aber für sie gab es keinen Beweis dafür.
Die Mutter legte ihr die Hand auf die Schulter, und sie fragte sich, warum sie wollen, dass sie denkt, Papi ist tot.
Jaume Prats sagte der Mutter, sie solle ihr etwas zu trinken geben, worauf sie ein Glas Orangensaft bekam. Eine halbe Stunde lang sah sie den Saft an, dann hörte sie Stimmen und Schritte. Leute liefen den Flur entlang, liefen wieder zurück, und die Mutter sagte: »Sie bringen Vater jetzt weg.«
Sie sprang auf, aber die Mutter war schneller, stand vor der Küchentür und ließ sich nicht zur Seite schieben. Sie boxte und schlug auf sie ein, aber die Mutter wehrte ihre Hände ab, fasste ihre Handgelenke und hielt sie fest.
Einer der Sanitäter betrat die Küche. »Wir haben die rote Decke mitgenommen.«
Sie wusste es. Sie hatten die rote Decke geholt, aber nicht ihren Papi.
Sie hatte keinen Grund zu weinen, aber im Bett abends weinte sie doch. Sie hätte sonst nicht einschlafen können.
Am nächsten Tag hatte sie nicht zur Schule müssen, durfte aber das Haus nicht verlassen.
Neun Tage nach der Beerdigung ließ man sie zum ersten Mal ins Freie, wenn es ihr auch nur erlaubt war, zu Tante Turia zu laufen, die oberhalb der Nekropolis wohnte. Sie war nicht wirklich mit ihr verwandt, sie nannte sie nur ›Tante‹, weil sie ihr so vertraut war. Vertrautheit setzt Offenheit voraus, doch seit dem Verschwinden ihres Vaters teilte sie auch Tante Turia keine Geheimnisse mehr mit.
Verwandt mit Tante Turia war vielmehr der Knirps, dessen Großtante sie war, nämlich die Schwester seiner Großmutter Josefa. Dort hatten sich die beiden auch kennen gelernt, und dort hatte er ihr von seiner Kunst, Krebse zu fangen, aufgeregt und unbeholfen berichtet. Sie hatte ihm seinen Bericht nicht geglaubt, weil sie die Sprache viel besser beherrschte und ihm alle Widersprüchlichkeiten und falschen Formulierungen entgegenhalten konnte. Sie war nicht nur zweieinhalb Jahre älter als er, was zwischen sieben und neun eine Menge ausmacht, sondern sie war auch scharfsinniger und intelligenter. Vermutlich wusste sie, dass er die Dinge zwar falsch beschrieb, aber nicht im Sinn hatte, etwas Falsches zu sagen oder zu lügen. Sie hatte über ihn gelacht, aber jetzt, nach dem Verschwinden ihres Vaters, war das Lachen bitter und ihr Hohn verletzend.
»Ach, der Lügner«, sagte sie, als sie ihn in Turias Wohnzimmer auf dem Fensterbrett sitzen sah. Er blickte hinunter auf das Meer, sprang aber sofort auf, als er ihre Stimme hörte. Dabei stolperte er und fiel auf ein Knie.
»Was sagst du?«, fragte Turia.
»Er wollte auf die Beerdigung Krebse mitbringen, er hatte aber keine, weil er gar keine fangen kann.«
Der Knirps wollte ihr erklären, dass er einen Krebs in der Tasche für sie dabeigehabt hatte, aber sie ließ ihn nicht zu Wort kommen.
»Warum hast du denn geweint?«
»Weil der Krebs tot war.« Er wollte noch erklären, dass er ihn in seiner Tasche nicht erdrücken wollte, aber sie war schneller und sagte: »Dann war ja wenigstens einer tot.«
Turia wusste nicht, was sie meinte, aber es kam ihr wie ein Streit vor. Sie mochte den kleinen Toni, den Enkel ihrer Schwester. Seine Mutter war zwar eine deutsche Hippiefrau, die ihren Mann betrogen und dann schließlich verlassen hatte, aber Klein-Tonis Schuld war das ja nicht, und er war im Unterschied zu hiesigen Kindern nicht stolz
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