Brennende Schuld
eines der faszinierendsten und fortschrittlichsten Völker der Antike.«
Ihm fiel ein, dass er sich nach seiner Rückkehr auf die Insel immer wieder vorgenommen hatte, die Geschichte seiner spanischen Heimat eingehender zu studieren. Er hatte bisher einfach nicht die Zeit gefunden, nicht einmal die, Karins Artikel zu lesen. Daher zeigte er sich interessiert. Dies war eine Gelegenheit, einen netten Abend zu haben und das Versäumte nachzuholen. Außerdem fand er die Geschichte viel interessanter, wenn Karin sie ihm erzählte. Manches beschrieb sie so lebendig, dass er alles anders sah als sonst und jeder Stein plötzlich eine Geschichte und ein Geheimnis hatte.
Dalt Vila war ein Labyrinth aus engen, verwinkelten und steilen Gassen, wo die Zeit stehen geblieben zu sein schien: winzige Balkone, eng behangene Wäscheleinen zwischen den Häusern, streunende Hunde und Katzen, alte Männer, die auf kleinen Holzstühlen in Hauseingängen saßen, schwatzende Hausfrauen. Auf dem höchsten Punkt der Altstadt war die Kathedrale bereits hell erleuchtet.
»Ibiza ist seit jeher ein magisches Stück Erde, das unter dem heiligen Schutz der punischen Götter steht«, schwärmte sie, als sie auf die kleine historische Plaça de Vila kamen, wo sich das Restaurant La Oliva mit ibizenkisch-provenzalischer Küche befand. »Vielleicht wurde deshalb behauptet, dass die Karthager der afrikanischen Metropole es vorzogen, die letzten Jahre ihres Lebens auf der Insel zu verbringen. Sie wollten in der geheiligten Erde Tanits sterben.«
Costa hatte Susanne mit ihrem Mann und ihren Eltern entdeckt und zog sie an den Tisch. Die Geburtstagsrunde begrüßte Susanne mit einer Flasche Champagner. Obwohl in dem Restaurant mit seinen alten Holzbalken, den ibizenkischen Figuren und der maurischen Dekoration eine urige Atmosphäre herrschte, entschieden sie, draußen zu essen statt in dem klimatisierten Raum. Susanne ließ die Speisekarten bringen, und jeder bestellte Vor- und Hauptspeise.
Susannes Eltern waren zum ersten Mal auf der Insel, und sie lenkte das Thema auf Karins letzten Artikel über die Ausgrabungsarbeiten in der Nekropolis.
Susanne erklärte den Eltern erst einmal, dass sie ihren Geburtstag hier auf der Akropolis feierten. »Die Stadt der Lebenden«, sagte sie lachend und hob ihr Glas. »Die Stadt der Toten, also die Nekropolis, ist einen Hügel weiter, und beide sind durch einen Erdgraben getrennt. Sie liegen sich spiegelbildlich gegenüber, denn die Phönizier stellten sich das Leben nach dem Tod wie ihr vorheriges Leben vor: der gleiche Alltag hüben wie drüben. Die gleichen Beziehungen, die gleichen Lieben, und die Grenze war durchlässig, man konnte von der anderen Dimension in die unseres Lebens zurückkehren. Auf jeden Fall waren die beiden Städte, die der Lebenden und die der Toten, durch einen Grabenbruch getrennt. Beide liegen hier an der Steilküste zum Meer nebeneinander. Eine hohe Küstenstraße verbindet sie. Ein schöner Spaziergang, den solltet ihr mal machen.«
»Darüber also schreiben Sie? Das ist wirklich interessant«, sagte Susannes Mutter.
Susanne erklärte ihr, dass Karin sich schon immer für Geschichte interessiert habe, das Thema aber bei den Zeitungen bislang nicht so eine Rolle gespielt habe. »Es wird auch in den deutschen Zeitschriften auf der Insel ein immer aktuelleres Thema. Die Nachfrage nach Geschichte hier ist wirklich groß.«
»Dass die ersten Siedlungen von den Phöniziern gegründet wurden, weiß ja sogar ich«, sagte der Vater. »Ich weiß nur nicht, wo Phönizien liegt.« Er lächelte und goss allen noch einmal Champagner nach.
»Es lag im Libanon, etwa da, wo heute Beirut ist.«
»Eine heiß umkämpfte Gegend«, sagte der Vater.
»Das war es auch schon damals 700 vor Christus«, erklärte Susanne. »Deswegen sind die Phönizier ja emigriert und haben nach und nach die östlichen Mittelmeerküsten besiedelt. Sie sind bis nach England gekommen. Karthago in Tunesien war die erste große Siedlung, aber Ibiza mauserte sich auch bald zu einer bedeutenden Stadt in der westeuropäischen Antike. Die Phönizier brachten aus dem Osten Glasgefäße, Zedernholz, die kostspieligste aller Farben – Purpur –, parfümierte Öle und Salben für Körperpflege und Bestattungsriten. Die Römer warfen nieder und verwalteten, aber die Phönizier lernten, tauschten aus und lehrten. Dadurch blühte Ibiza auf.«
»Das war also Ihr letztes Thema«, sagte der Vater, der mit Karin in einen persönlicheren
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