Brennende Schuld
dem Tisch lagen die Manuskripte ihrer letzten Artikel, im Schlafzimmer war das Bett frisch bezogen und unberührt.
Er rief ihren Namen, obwohl er wusste, die Antwort würde ausbleiben.
Um fünf bin ich spätestens zu Hause, hatte sie gesagt.
Er ging in die Küche und räumte den Inhalt der Einkaufstüten in den Kühlschrank. Der Metzger, der bei allen Schlachtfesten der Familie half, hatte ihm zwei gute Ochsenkoteletts aus Villagodia eingepackt. Dazu grobes Meersalz, Kartoffeln aus San Mateo und Salatherzen aus Tudela. Den Wein hatte er vergessen. Zu seiner Freude fand er wenigstens eine Flasche Rosé vor. Er war kein Liebhaber von Rosé, aber dieser war nicht schlecht. Mit dem Wein im Kühler, einem Glas in der Hand und ihren Manuskripten machte er es sich auf dem Balkon bequem.
Sie hatte Glück gehabt mit ihrer Wohnung. Der Blick über die Boote im Jachthafen, auf die Kathedrale und die Burg war das Motiv der meistverkauften Postkarten.
Ein Kreuzfahrtschiff, begleitet von kleinen Lotsenbooten, lief in den Hafen ein. In ein paar Stunden würde sich die Hafenmeile mit braun gebrannten Touristen füllen, die halb nackt über das alte Pflaster der Stadt flanierten, vorbei an den Verkaufsständen der Hippies und fliegenden Händler.
Costa blätterte die Seiten der Manuskripte durch. Ein paar alte Fotos aus den sechziger Jahren fielen ihm entgegen. Karins Artikel über die Geschichte Ibizas begann mit den Hippies und Touristen, die sie als friedliche Invasoren beschrieb. Die zweite »Invasion«, die es in der Geschichte Ibizas gegeben habe. Die erste lag zweitausendsiebenhundert Jahre zurück, und die iberischen Hirten hatten über die ankommenden Phönizier vielleicht ebenso gestaunt wie die ibizenkischen Bauersfrauen in ihren sieben Röcken über die langhaarigen Halbnackten der Hippie-Invasion. Über sechshundert Jahre lebten die Insulaner mit den Einwanderern aus dem Libanon friedlich zusammen, lernten voneinander und vermischten sich. Dann kamen die Römer, vertrieben die Phönizier, herrschten weitere sechshundert Jahre über die Insel, bis die Vandalen einfielen und alles verwüsteten. Die Römer eroberten die Insel zurück, wurden aber von den arabischen Mohammedanern geschlagen und vertrieben. Ab dann befand sich die Insel mit dem neuen Namen Yebisah, den sie heute noch hat, unter der Verwaltung des Kalifats von Cordoba. Die Araber wehrten die Normannen erfolgreich ab. Die arabische Epoche endete im 13. Jahrhundert mit der christlichen Eroberung und Vertreibung der Mauren.
Besonders berührte Costa, wie Karin in einem ihrer Artikel das Ergebnis der Armut, der Hungersnöte und Eroberungen beschrieb: Auf der im Sommer von Hunderttausenden heimgesuchten Insel gab es einst kaum Menschen, und auf der Nachbarinsel Formentera gab es zeitweise überhaupt niemanden mehr. Die spanische Inquisition argwöhnte auf der Insel zu Recht Häretiker, Teufelsanbeter und Heiden und folterte im Namen der Kirche die letzten Überlebenden. So wurde die Insel den Piraten des Mittelmeers eine leichte Beute.
Costa sah über die Mole zum Obelisken, der sich steil gegen den Abendhimmel erhob, dem Denkmal für den Piratenanführer Antonio Riquer Arabi.
Zuerst hatten die Ibizenker auf der ganzen Insel Wachtürme und Wehrkirchen gebaut, in die sie sich bei Überfällen flüchteten. Laut schallte der Ruf über die Inseltäler, wenn ein Piratenschiff in Sicht kam. Später türmten sie auf die Reste des arabischen Verteidigungswalles den ungeheuren Felsenberg der Festungsmauer, hinter der die Bevölkerung Schutz vor den Kanonen der Feinde fand. Aber schließlich gingen die unablässig Überfallenen zur Offensive über: Sie wurden selbst zu Freibeutern. Hatten ihre Vorfahren als Krieger unter Hannibal nicht das Römische Weltreich erschüttert? Als Seeräuber und Korsaren waren sie ebenso erfolgreich. Allein Antonio Riquer kaperte über hundert schwer bewaffnete Schiffe mit einer Nussschale von Fischerboot und ein paar betrunkenen Matrosen. Costas Großmutter Josefa war eine direkte Nachfahrin dieses Piraten und stolz auf ihr Blut.
Sein Mobiltelefon klingelte. Es war Karin. Der neue Chefredakteur wolle einen Artikel für die Sonderausgabe, sie könne noch nicht weg. Sie würde von der Redaktion auf direktem Weg zur Feier der UNESCO im Museo Monográfico fahren. Ob sie sich danach treffen wollten?
Er überlegte kurz: Karin liebte es, wenn er sie bei festlichen Anlässen begleitete. Er tat es ungern, sollte aber diesmal vielleicht eine
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