Brennende Sehnsucht
den Rücken zukehrte. Er hatte vor Jahren die Kombination ändern lassen und hatte vorgehabt, sie Wolfe zu verraten, sollte er ihn jemals danach fragen, aber das hatte dieser bisher nicht getan. Warum sollte er also den armen, moralisch nicht besonders gefestigten Kerl in die schreckliche Situation bringen, sich selbst ständig zusammenreißen zu müssen, um den Tresor nicht auszuräumen?
Stickley füllte einen kleinen Beutel mit mehreren Pfundscheinen und einigen Münzen. Er war Wolfe gegenüber immer sehr großzügig. Wenn das treuhänderische Vermögen aufgrund sorgfältig ausgewählter Investitionen anstieg, dann füllte er auch Wolfes Beutel entsprechend mehr.
Nicht im Traum würde es Stickey einfallen, den Sohn des verehrten Partners seines Vaters zu betrügen, obwohl es lächerlich leicht wäre, es zu tun. Tatsächlich hatte Stickley sich über die Jahre verschiedene Möglichkeiten ausgedacht, wie er Wolfes Honoraranteil schmälern konnte, aber man musste sich einen hohen moralischen Standard setzen und durfte nie davon abweichen, sonst verlor man sich in der Sünde.
Stickleys stahlen nicht.
Ohne sich umzudrehen, warf er die Börse über die Schulter, wohl wissend, dass Wolfe sie in der Luft auffangen würde. Dann schloss er den Safe und stellte die Kombination neu, wobei er Wolfe die ganze Zeit den Rücken zuwandte und so die Sicht versperrte.
Schließlich drehte er sich um. Er erwartete, Wolfe bereits auf dem Weg zur Tür zu finden, doch stattdessen räkelte sich sein geradezu absurd attraktiver Geschäftspartner in dem zweiten Ledersessel und betrachtete ihn aus zusammengekniffenen Augen.
»Du bist noch ziemlich jung dafür, eine Glatze zu kriegen, stimmt’s, Stick?«
Ohne es zu wollen, fuhr sich Stickley mit der Hand über den Hinterkopf. Er riss die Hand herunter und stolzierte auf seine Seite des großen Schreibtisches. »Ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon du sprichst.« Er setzte sich genau in die Mitte des breiten Ledersessels, wobei er vorher seine Frackschöße präzise hochwarf. Er schaute auf und ertappte Wolfe dabei, wie dieser ihn wohlwollend angrinste.
»Stick, mach dir deshalb keine Sorgen. Wir sind beide keine jungen Burschen mehr.«
Mit einem Blick auf das aufgedunsene Gesicht seines Partners nickte Stickley knapp. »In der Tat.«
»Ich glaube, du brauchst eine Frau, Stick.« Wolfe beugte sich vor und stützte beide Ellenbogen auf die jungfräuliche Schreibunterlage auf seiner Seite des Schreibtisches. Die von Stickley war nicht so sauber, aber schließlich wurde die ja auch tatsächlich benutzt. »Eine, die dir einen Haufen kleine Stickleys schenkt – einen Sohn, um die Kanzlei weiterzuführen, und eine Tochter, um deine alten Tage ein bisschen schöner zu machen.«
»Ich bin mit meiner Situation vollkommen zufrieden«, entgegnete Stickley. »Du anderseits könntest möglicherweise davon profitieren, wenn du dich auf eine Frau beschränken würdest.« Dann wäre es weniger wahrscheinlich, dass du an der Syphilis stirbst oder von einem eifersüchtigen Ehemann erschossen wirst.
Er hatte es nicht laut ausgesprochen, aber Wolfe grinste
ohne Reue, als hätte er jedes Wort gehört. »Stick, wenigstens wird es jemandem auffallen, wenn ich sterbe. Du hingegen wirst einfach hier am Schreibtisch sitzen bleiben, bis du eine von diesen afrikanischen Mumien geworden bist.«
»Ägyptische Mumien«, korrigierte Stickley ihn eisig. »Was du wissen würdest, wenn du die Zeitungen für irgendetwas anderes verwenden würdest, als deine Stiefel damit auszustopfen.«
»Noch nicht einmal dafür, mein Lieber. Mein Kammerdiener stopft meine Stiefel für mich aus.« Wolfe lehnte sich zurück und legte besagte Stiefel auf die Schreibunterlage, wobei er die Knöchel überkreuzte. Er verschränkte die Hände im Nacken und schaute mit leicht gerunzelter Stirn über den Schreibtisch. »Stick, ich glaube, ich habe dich ein wenig vernachlässigt.«
Stickley erstarrte. Bitte, sag nicht, dass du mehr Verantwortung in der Kanzlei übernehmen willst!
Wolfe nickte, als sei er zu einer Entscheidung gekommen. »Ich glaube, es ist an der Zeit, dass ich ein wenig mehr Verantwortung in der Kanzlei übernehme.«
»Nein!«« Stickley sprang aus Protest fast auf. Dann zwang er sich zur Besonnenheit, während er sich langsam tiefer in den Stuhl sinken ließ. Es gab keinen Anlass zur Panik. Schließlich handelte es sich um Wolfe. Man gebe ihm ein Blatt Papier mit Zahlen zum Zusammenzählen, und er wäre binnen
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