Brennendes Wasser
innehielt. Neben den ausladenden, unförmigen Baumstämmen, die mehr als dreißig Meter in die Höhe ragten, kamen sie sich fast wie Zwerge vor. Durch ein paar Öffnungen im Blätterdach fiel etwas Mondlicht bis zu ihnen herab, doch Tessa war trotzdem kaum zu erkennen. Sie hob die Hand. Die Trouts schauten zu den Wipfeln empor und sahen nur Dunkelheit sowie vereinzelte Stücke des silbergrauen Nachthimmels.
Die Frau bemerkte ihre Verwirrung. Als wäre sie eine Lehrerin, die mit blinden Kindern arbeitete, nahm sie nacheinander Pauls und Gamays Hände und legte etwas hinein, das sich wie eine tote Schlange anfühlte. Dicke Nylonseile. Paul dachte an die seltsamen Gürtel von Arnaud und dessen Gehilfen sowie an Dieters Geschichte über den Zeppelin. Hastig fertigte er eine Schlinge an und legte sie um Gamays schlanke Taille. Gamay zog am anderen Ende des Seils und erhob sich in die Luft. Paul sah sich um. Dieters Frau war verschwunden. Sie waren allein.
»Mach weiter«, sagte er. »Ich komme gleich.« Er band sich das andere Seil um den Leib und befand sich schon nach wenigen kraftvollen Zügen einige Meter über dem Boden. Gamay war dicht über ihm, wie ihr mühsames Keuchen verriet.
Von unten ertönte plötzlich ein seltsam trillernder Ruf. Einige Chulo kamen in Sicht und schleuderten ihre Fackeln in hohem Bogen durch die Luft. Gamay und Paul zogen sich immer weiter nach oben, wenngleich sie befürchten mussten, jeden Moment von riesigen Pfeilen durchbohrt zu werden.
Gerade als sie glaubten, sich nun außer Schussweite zu befinden, schauten sie nach unten und sahen, wie zwei der Indios sich vom Boden erhoben. Na klar, dachte Paul. Wenn es zwei Flaschenzüge gab, waren da bestimmt noch mehr. »Bin oben!«, rief Gamay.
Paul kletterte weiter und spürte, dass seine Frau ihm die Hand entgegenstreckte, um ihm auf einen mehr als hüftdicken Ast zu helfen. Mit angestrengtem Ächzen zog er sich nach oben und griff nach einem Halt. Seine Hand berührte eine glatte, gummiartige Oberfläche. Zwar wurde der silbrige Schimmer des Halbmonds durch Dunstschwaden über den Bäumen gedämpft, doch erkannte Paul dennoch eine große Plattform, die aus einem Flechtwerk bestand, das zwischen Gummiwülsten gespannt war und sich wie das Netz einer Riesenspinne quer über die Wipfel erstreckte. Eine wirklich raffinierte Konstruktion, um auf dem Dach des Urwalds arbeiten zu können, dachte Paul, doch jetzt war nicht der geeignete Zeitpunkt für seine Bewunderung. Unter ihm waren laute Atemzüge zu hören. Er tastete nach seinem Jagdmesser und erinnerte sich, dass einer der Indios es ihm zusammen mit dem Colt abgenommen hatte.
Gamay rief etwas und wies auf die zigarrenförmige Silhouette eines kleinen Luftschiffs, das über ihren Köpfen schwebte. Direkt unter ihren Füßen brach ein Zweig. Die Chulo würden jeden Augenblick eintreffen. Paul machte sich von dem Seil los und lief mit einiger Mühe über das elastische Netz bis zu einer Halteleine. Er packte die Leine und zerrte den Zeppelin mit aller Kraft nach unten, bis Gamay auf die Bank steigen konnte, die unter dem Gasbehälter hing. Eilends nahm Paul neben ihr Platz.
»Weißt du, wie man diese Dinger steuert?«, fragte Gamay.
»Das kann doch nicht so schwierig sein. Betrachten wir es einfach als Boot. Demnach sollten wir zunächst ablegen.«
Gamay war als Kind auf den Großen Seen gesegelt, und so wirkte der Vergleich irgendwie beruhigend auf sie, obwohl sie nicht recht daran glaubte. Hastig lösten sie sämtliche Halteleinen. Das Luftschiff verharrte kurz an Ort und Stelle, schien sich dann eines anderen zu besinnen und stieg gemächlich über die Bäume empor. Unter sich sahen die Trouts zwei schemenhafte Gestalten springen und nach den baumelnden Seilen greifen, doch der Zeppelin hatte bereits zu sehr an Höhe gewonnen.
Überall um sie herum erstreckten sich nebelverhangene Tiefen. Das Luftschiff schwebte immer höher und wurde schließlich wie ein Samenkorn von der Brise davongetragen. Hatte ihre Flucht vor der Bedrohung sie womöglich nur neuen Gefahren ausgesetzt?
11
»Señor? Señor!«
Blinzelnd schlug Austin die Augen auf und erblickte einen stoppeligen grauen Backenbart auf ledrigen Wangen sowie einen Mund voller Zahnlücken, der ihn angrinste wie eine Kürbislaterne. Es war das Gesicht des mexikanischen Anglers, den er und Joe am Vortag oberhalb der Klippen getroffen hatten. Kurt lag rücklings in einem offenen Holzboot, und sein Kopf ruhte auf einer Seilrolle. Er
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