Brennendes Wasser
wissenschaftliche Vorbildung erkennen ließ, doch zumeist sog sie die Neuigkeiten mit verträumten Blick und schweigend in sich auf, als wäre sie eine Rauschgiftsüchtige, die Opiumdämpfe inhalierte.
»Und jetzt erzählen Sie mir etwas über die politische Lage«, bat sie.
Erneut kramten die Trouts in ihrem Gedächtnis: die Präsidialpolitik der USA, die Beziehung zu Russland, die Nachwehen des zweiten Golfkriegs, der Krieg auf dem Balkan, Dürren, Hungersnöte, Terrorismus, die Europäische Union. Die Frau erkundigte sich nach Brasilien und schien erfreut zu sein, als die Trouts sagten, der Demokratisierungsprozess des Landes habe sich erfolgreich fortgesetzt. Dann sprachen sie über Filme und Theaterstücke, Musik und Kunst, den Tod bekannter Persönlichkeiten. Paul und Gamay waren selbst überrascht, wie unglaublich wechselvoll das letzte Jahrzehnt verlaufen war. Langsam taten ihnen vom vielen Erzählen die Kiefer weh.
»Was ist mit Krebs? Hat man ein Heilmittel gefunden?«
»Leider nicht.«
»Und die Süßwasserversorgung? Ist das immer noch ein so großes Problem in weiten Teilen der Welt?«
»Schlimmer als je zuvor, und hinzu kommen Unterentwicklung und Umweltverschmutzung.«
Sie schüttelte betrübt den Kopf. »So viel«, sagte sie versonnen. »Ich habe so viel verpasst. Ich weiß nicht, ob meine Eltern noch am Leben sind. Ich vermisse sie, vor allem meine Mutter.«
In ihrem Auge schimmerte eine Träne. Sie wischte sie mit der Serviette weg. »Ich muss mich für meine Wissbegierde entschuldigen, aber Sie können sich nicht vorstellen, wie schrecklich es ist, hier im Wald von allem isoliert zu sein und nichts von der Außenwelt mitzubekommen. Sie sind sehr freundlich und geduldig gewesen. Und jetzt möchte ich Ihnen meine Geschichte erzählen.« Sie ließ Tee servieren und schickte die Indiofrauen dann weg, so dass sie mit Paul und Gamay allein war.
»Ich heiße Francesca Cabral«, begann sie. Eine Stunde lang lauschten die Trouts gespannt dem Lebenslauf der Göttin, von ihrer Familie über die Ausbildung in Brasilien und den USA bis hin zu der Bruchlandung des Flugzeugs.
»Ich habe als Einzige überlebt«, sagte sie. »Der Kopilot mag ein Schurke gewesen sein, aber fliegen konnte er. Der Jet rutschte in den Uferschlamm des Flusses, wodurch der Aufprall gedämpft und ein Feuer verhindert wurde. Als ich wieder zu mir kam, fand ich mich in einer Hütte wieder. Die Indios hatten mich dorthin gebracht. Meine Schnitt- und Quetschwunden taten furchtbar weh, und mein rechtes Bein war anscheinend mehrfach und kompliziert gebrochen. Wie Sie bestimmt schon gehört haben, verfügen die Eingeborenen des Regenwaldes oft über erstaunliche Medizinkenntnisse.
Sie haben mein Bein gerichtet und mir Arzneien eingeflößt, die sich als schmerzlindernd und heilungsfördernd erwiesen.
Später erfuhr ich, dass das Flugzeug direkt auf dem Dach der Hütte ihres Häuptlings gelandet war und ihn getötet hatte. Aber man machte mir daraus keinen Vorwurf. Ganz im Gegenteil sogar.«
»Man machte Sie zur Göttin«, sagte Gamay.
»Das alles ist durchaus nachvollziehbar. Die Chulo haben sich schon vor langer Zeit in die Tiefen des Waldes zurückgezogen, um der Ausrottung durch den weißen Mann zu entgehen. Sie sind vom Rest der Welt völlig abgeschnitten. Dann komme ich wie ein flammender Komet vom Himmel gestürzt, genau wie man es von einem zornigen Gott erwarten würde. Die Indios haben gedacht, ihr Häuptling hätte die Götter verärgert. Ich wurde zur zentralen Gestalt ihrer Religion.«
»Eine Art Cargo-Kult?«, fragte Gamay.
»Während des Zweiten Weltkriegs haben Eingeborene zum ersten Mal in ihrem Leben Flugzeuge am Himmel erblickt und daraufhin am Boden primitive Abbilder der Maschinen angefertigt und verehrt«, erklärte Paul.
»Ja«, sagte Gamay. »Erinnerst du dich noch an den Film
›Die Götter müssen verrückt sein‹
? Jemand warf eine Colaflasche aus dem Flugzeug, die zu einem Objekt religiöser Verehrung wurde und allerlei Schwierigkeiten verursachte.«
»Ganz genau«, sagte Francesca. »Und jetzt stellen Sie sich mal vor, diese Eingeborenen hätten ein echtes Flugzeug in die Finger bekommen.«
»Das erklärt den Schrein mit dem Wrack im Zentrum.«
Sie nickte. »Die Leute haben die Teile des Jets dorthin geschleppt und gar nicht mal so schlecht wieder zusammengefügt.
Als eine Art ›Streitwagen der Götter‹. Hin und wieder müssen wir ein Tieropfer darbringen, damit die himmlischen Mächte nicht
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