Brennnesselsommer (German Edition)
Orange und Ocker. Das Geld reicht gerade so eben, und Anja überlegt sich, dass sie bald einen Job suchen muss, vielleicht Babysitten oder Zeitungenaustragen. Seit Fränzi da ist, muss sie mit Unvorhersehbarem rechnen. Fränzi spendiert ihnen noch eine Plane zum Abdecken, vier große Farbrollen und einen Pinsel.
Als sie auf dem Schulhof vorfahren, warten dort schon Jasmin und Ole. Sie ziehen sich die alten Hemden über, die sie zu Hause aus der Altkleidertüte gezupft haben, und Fränzi zeigt ihnen, wie sie den Boden etwas abdecken können, damit nicht alles volltropft, und wie viel Farbe sie auf die Rollen nehmen sollen. Anja hebt die Rolle hoch, schwer von Farbe, und malt, ohne zu überlegen, eine schwungvolle tiefrote Welle mitten auf die graue Betonwand. Da gibt es auf einmal kein Halten mehr. Flitzi malt mit Ocker gleich hinterher, und Ole und Jasmin fangen auf der anderen Seite des Einganges mit einem wilden orange-blauen Zickzack an. Sie lachen vor Begeisterung. Die graue Wand schillert schon in satten Farben, es sieht aus, als hätte jemand die Langeweile einfach weggeträumt. Fränzi lacht auch.
Sie lässt die Kinder eine Weile allein und besorgt Lebensmittel und Futter, und als sie zurückkommt, ist die ganze vordere Fassade schon ein leuchtender Augenschmaus. Niemand hat bisher etwas gemerkt, der Schulhof ist mit seinem hohen Gebüsch und dem Zaun gut gegen die Straße abgeschirmt. Das Rot ist schon aufgebraucht, vom Blau ist auch nicht mehr viel übrig.
»Sollen wir aufhören?«, fragt Ole, dem die farbverklebten Haare wie ein Kamm vom Kopf abstehen. Flitzi wischt sich die Hände an dem alten Hemd ab und nimmt die Wasserflasche, die Jasmin herumreicht.
»Lieber eine Wand richtig als überall ein bisschen«, findet Jasmin, und sie treten zufrieden ein paar Schritte zurück und bewundern die Wand. Als auf der Straße ein Auto abbremst, erschrickt Anja, aber es hält nicht an.
»Kommt«, sagt sie, »wir hauen ab.«
Die anderen fangen gleich an zusammenzupacken, inzwischen haben sie auch Hunger bekommen. Flitzi rollt mit Jasmin die Folie zusammen, Anja drückt die Deckel auf die Behälter. Da sagt Fränzi: »Und was macht ihr am Montag?«
»Wieso?«, fragt Ole. »In die Schule gehen natürlich.«
»Und was meint ihr, was dann hier los ist?«
»Es darf niemand rauskriegen, dass wir das waren«, sagt Ole.
»Und wenn es jemand rauskriegt?«, fragt Flitzi ängstlich.
»Ihr könnt es auch anders machen«, sagt Fränzi. »Ihr könnt das Kunstwerk signieren, dann wissen alle, dass ihr es gemacht habt, und ihr könnt eure Idee erklären.«
»Spinnst du?«, ruft Ole. »Dann müssen wir nachher noch eine Strafe bezahlen.«
Anja schaut schnell zu Fränzi hinüber, um zu sehen, ob sie beleidigt über Oles Ton ist, aber sie lacht nur. »Gute Ideen sind immer riskant.«
»Was heißt riskant?«, fragt Flitzi, aber da hat Anja schon den Pinsel genommen und mit dem Rest des Blau links unten auf die Wand schwungvoll ihren Namen geschrieben. Flitzi, Ole und Jasmin starren auf die Wand. Schließlich nimmt einer nach dem anderen den Pinsel und schreibt seinen Namen dazu.
»Jetzt wissen alle, wer es gemacht hat«, sagt Anja finster, aber zugleich ist sie auch stolz. Wenn am Montag der Hausmeister sie alle aus der Schule werfen will, wird sie erklären, dass eine bunte Schule besser ist als eine graue. Und vielleicht machen dann noch mehr Kinder mit, und die ganze Schule wird am Ende goldenrotblaulilagrünbraunsilber, eine Sehenswürdigkeit in Lauterbach. Vielleicht kommen sogar Touristen in den Ort, um die leuchtende Schule zu fotografieren, dann könnte Papa für die ein Hotel bauen, und alle wären zufrieden.
Anja und Flitzi verabschieden sich von Jasmin und Ole und klettern in Fränzis Transporter.
Am Gnadenhof angekommen laden sie die Farben ab. Dann haben sie erst mal genug vom Anstreichen. Während Fränzi das ganze restliche Wochenende auf Leitern um den Gnadenhof herumbalanciert und alles maisgelb tüncht, gehen Anja und Flitzi mit ihren Eltern wandern und spielen später noch mit den anderen aus der Straße. Ole ist auch dabei und Anja zwinkert ihm zu. Die bunte Schule leuchtet in ihren Gedanken. Sie muss richtig grinsen, als sie wieder daran denkt, wie sie in ihren alten Hemden Zickzacklinien auf die Wand gemalt haben und wie sich die farbgetränkten Rollen in den Händen anfühlten.
Aber am Sonntagabend fängt Flitzi plötzlich beim Abendbrot an, leise zu schluchzen. Anja stößt sie unter dem
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