Bretonische Verhältnisse
fragend die Augenbrauen.
»Wir wissen noch nicht, ob es ein Unfall war oder Ihr Mann gestoßen wurde. Oder – oder ob Ihr Mann selbst – ob er …«
»Selbst gesprungen ist?«
»Wir werden vielleicht niemals mit Sicherheit sagen können, was passiert ist. Bisher haben wir keinen Augenzeugen. Und aussagekräftige Spuren lassen sich nicht mehr feststellen. Sie haben erlebt, was für ein Regen diese Nacht niederging. Alles ist bisher Spekulation.«
»Ich will nur wissen, ob es ein Mord war. Dann müssen Sie den Mörder finden, das müssen Sie mir versprechen. Dann wird es derselbe sein, der auch meinen Schwiegervater getötet hat – denken Sie nicht?«
»Ich weiß es nicht, Madame Pennec. Wir können noch gar nichts sagen. Sie sollten sich damit im Augenblick nicht befassen.«
»Ich hoffe sehr, Sie machen bald Fortschritte.«
»Ich werde Sie nicht lange stören. Ein paar Dinge müsste ich dennoch mit Ihnen besprechen. Bitte erzählen Sie mir von gestern Abend, wann ist …«
»Mein Mann hat das Haus kurz vor halb zehn verlassen. Er wollte noch etwas spazieren gehen. Er fährt häufig abends noch einmal zum Meer, manchmal zu seinem Boot, das beim Plage Tahiti liegt, manchmal macht er auch nur einen Gang hier im Ort. Er geht sehr gerne spazieren. Seit Jahrzehnten. Er –«
Ihre Stimme wurde brüchig.
»Er mochte den Weg zwischen Rospico und dem Plage Tahiti. Und im Sommer, in der Saison ging er immer spät. Es ging ihm natürlich sehr schlecht seit vorgestern, und er hatte sich ein wenig Beruhigung versprochen. In der Nacht nach der schrecklichen Nachricht hat er keinen Schlaf finden können. Wir beide nicht.«
»War er gestern alleine?«
»Er war immer alleine auf seinen Spaziergängen. Auch ich habe ihn nie begleitet. Er hat seinen Wagen genommen.«
Ihre Stimme wurde noch schwerer.
»Er hat seine Autoschlüssel länger gesucht. Und dann an der Tür ›bis später‹ gesagt.«
»Wie lange blieb er für gewöhnlich weg?«
»Zwei Stunden vielleicht. Wir sind gestern fast gleichzeitig aufgebrochen, deswegen weiß ich so genau, wann er das Haus verlassen hat. Ich bin zur Nachtapotheke nach Trévignon gefahren, mein Arzt hatte uns Schlaftabletten verschrieben, uns beiden. Wir brauchten Schlaf. Eigentlich nehmen wir so was nie.«
»Sie haben vollkommen recht. Quälen Sie sich nicht unnötig.«
»Ich bin dann ins Bett gegangen, als ich zurückkam; ich habe ihm die Tabletten in seinem Zimmer an sein Bett gelegt. Sie liegen dort noch immer.«
»Sie haben getrennte Schlafzimmer?«
Catherine Pennec blickte Dupin indigniert an.
»Selbstverständlich. Ja. Andernfalls hätte ich ja heute Morgen sofort bemerkt, dass mein Mann nicht zurückgekommen ist.«
»Ich verstehe, Madame Pennec.«
»Es gab überhaupt nichts Ungewöhnliches an der Situation gestern Abend, dem Spaziergang, der Uhrzeit, seiner Strecke, Monsieur le Commissaire, gar nichts, es war wie immer – außer den Umständen natürlich.«
Madame Pennec hatte diese Sätze fast flehentlich, beschwörend gesagt.
»Ich verstehe. Es ist alles schrecklich. Ich werde Sie jetzt nicht länger mit all diesen Dingen behelligen, nur über eine wichtige Angelegenheit müssen wir noch sprechen, an der alles hängt und die Sie bislang noch nicht erwähnt haben.«
Madame Pennec schaute den Kommissar direkt an. Dupin meinte für einen Moment Unsicherheit in ihrem Blick wahrgenommen zu haben. Er konnte sich aber auch irren.
»Sie meinen das Bild. Sie wissen es. Natürlich. Ja, das verfluchte Bild. Es dreht sich alles um das Bild, nicht wahr?«
Ihre Stimme war ganz sicher.
»Ja. Ich denke ja.«
»Über hundertdreißig Jahre hat es da friedlich gehangen. Und jetzt?«
Sie setzte kurz ab.
»Niemand hat je über das Bild gesprochen oder sprechen dürfen. Das war ein Tabu in der Familie Pennec, wissen Sie. Auf diesem Geheimnis beruhte alles, die ganze Familie. Es musste unter allen Umständen gewahrt werden. Noch nach dem Tod Pierre-Louis Pennecs, verstehen Sie? Es ist ein Verhängnis. So viel Geld ist ein Verhängnis. Wahrscheinlich war es richtig, dass sie ein solches Geheimnis daraus gemacht haben. Erst als Pierre-Louis Pennec sich entschieden hatte, es dem Musée d’Orsay zu schenken, nahm das Unheil seinen Lauf. Sie wissen sicherlich auch davon?«
Jetzt fing es an. Dupin kannte diesen Punkt. In allen Fällen. Ab einem bestimmten Moment kamen die ersten wirklichen Geschichten zum Vorschein, bis dahin versuchten alle, glatte, undurchdringliche Oberflächen zu
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