Bretonische Verhältnisse
seine junge javanesische Freundin schlimm beleidigt hatte. Er war damals einigermaßen schwer verletzt, doch Marie-Jeanne hat ihn liebevoll und mit Hingabe gepflegt, Tag für Tag, bis er wieder genesen war. Dass es seitdem an dieser Stelle in diesem Restaurant hing – das ist eine unfassliche Vorstellung. Fantastisch.«
»Sie waren sehr nahe an der Wahrheit dran, Monsieur le Commissaire.«
Marie Morgane Cassel hatte diesen Satz sehr nachdenklich gesprochen. Sie blickte Dupin mit großen Augen an. Dupin musste kurz schmunzeln.
»Sind Sie nicht auf die Idee gekommen, dass dies alles hoch relevant sein könnte für die polizeilichen Ermittlungen, Monsieur Sauré – ich meine, als Sie dann von dem Mord an Pierre-Louis Pennec gehört haben?«
Charles Sauré blickte Dupin mit echtem Erstaunen an.
»Ich bin es gewohnt, sehr diskret zu arbeiten. Monsieur Pennec hatte mich gebeten, unter allen Umständen zunächst absolute Diskretion zu wahren. Und das ist nicht ungewöhnlich für Vorgänge in der Kunstwelt. Das Gros der Dinge in unserer Welt ist, wie soll ich sagen, sehr privat. Natürlich war ich irritiert, als ich von dem Geschehen gehört habe. Aber auch dann schien es mir das Angemessenste, die Vertraulichkeit zu wahren. Das ist unser höchstes Gut. Vielleicht schätzen die Erben des Bildes dieselbe Diskretion. Das ist eine ganz private Angelegenheit – ein solches Bild, einen solchen Wert zu besitzen, und ebenso eine Schenkung zu machen. Wir haben einen strengen Kodex.«
»Aber …«
Dupin brach ab. Das machte keinen Sinn. Es war eindeutig, dass Charles Sauré das alles nicht im Geringsten als merkwürdig empfunden hatte oder jetzt empfand. Nicht, dass er zwei Tage vor dem Mord Pierre-Louis Pennec noch gesehen hatte, nicht, dass er dort von einem vierzig Millionen teuren Gemälde erfahren hatte, das – da brauchte es keine außerordentliche Vorstellungskraft – doch sehr evident ein Motiv für den Mord sein könnte, von dem er dann gehört hatte.
»Wann sollte die Übergabe stattfinden?«
»Wir wollten telefonieren, um uns zu verabreden. Aber als er mich rausbegleitete, sprach er direkt vom Anfang der nächsten Woche. Er wollte es bald regeln.«
»Ich nehme an, Monsieur Pennec hat Sie nicht in die Gründe für diese Schenkung eingeweiht?«
»Nein.«
»Und dass er Ihnen auch ansonsten weiter nichts erzählt hat, was von Belang wäre – was Ihnen nun nach seiner Ermordung von Belang erschiene?«
»Es ging ausschließlich um das Bild und das Vorhaben der Schenkung. Um das Prozedere. Ich habe auch keine Erklärungen von ihm erwartet, keine Geschichte. Ich habe ihm keinerlei Fragen gestellt. Ich kenne meine Rolle sehr gut.«
»Ich verstehe. Und nichts an Pierre-Louis Pennec ist Ihnen in irgendeiner Weise auffällig erschienen? Keine übermäßige Nervosität – irgendetwas, das Ihnen durch den Kopf ging nach Ihrem Treffen?«
»Nein. Klar war nur, dass er keine Zeit verlieren wollte. Aber er wirkte nicht gehetzt oder hastig dabei. Nur entschieden.«
Dupin hatte die Lust verloren. Das passierte ihm nicht selten, auch in den wichtigsten Gesprächen und Verhören. Aber was er hatte wissen wollen, wusste er nun.
»Ich danke Ihnen vielmals, Monsieur Sauré. Sie haben mir sehr geholfen. Wir müssen jetzt zurück, ich werde in Pont Aven gebraucht.«
Charles Sauré war sichtlich verwirrt von dem jähen Ende des Gesprächs.
»Ich – ja, in der Tat, ich kann Ihnen nicht mehr sagen als das, was ich gesagt habe. Es waren keine langen Telefonate und auch kein langes Treffen.«
»Danke – noch einmal vielen Dank.«
Dupin stand auf. Marie Morgane Cassel schien ebenso überrascht von dem plötzlichen Ende des Gesprächs wie Sauré. Etwas verlegen sprang auch sie auf.
»Ich würde meinerseits noch gerne etwas wissen, Monsieur le Commissaire.«
»Natürlich.«
»Wer wird das Bild erben, ich meine, wem gehört es nach dem – dem Tod von Monsieur Pennec? Ich habe etwas von einem Sohn in der Zeitung gelesen.«
Dupin sah keinerlei Notwendigkeit, Sauré von den Ereignissen des Morgens zu unterrichten.
»Das werden wir sehen, Monsieur Sauré, im Moment möchte ich mich dazu nicht äußern.«
»Ich gehe doch davon aus, dass die Erben die Schenkung weiterverfolgen werden, es war ja der souveräne Wille des Eigentümers – es ist ja auch richtig, so ein Bild gehört der ganzen Welt.«
»Dazu kann ich Ihnen nichts sagen.«
»Es ist ja sicherlich noch zu der testamentarischen Fixierung des Schenkungswillens
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