Brian Lumleys Necroscope: Buch 2 - Vampirbrut (German Edition)
sich nicht als wirklich und endgültig tot betrachtet, doch nun begann er zu fürchten, es könne tatsächlich so sein. Und würde das nicht auch erklären, warum ihn die Toten so liebten? Weil er einer der Ihren war?
Zornig wies er den Gedanken zurück. Der Zorn richtete sich gegen ihn selbst. Denn die Toten hatten ihn bereits geliebt, als er noch ein Mann aus Fleisch und Blut gewesen war! Doch sogar dieser Gedankengang ließ seinen Zorn anwachsen. Ich bin noch immer ein Mann!, sagte er sich, doch er war sich keineswegs mehr so sicher. Denn nun, nachdem er ihn heraufbeschworen hatte, ließ ihn der Gedanke an eine langsame, unmerkliche Verwandlung nicht mehr los.
Vor knapp einem Jahr hatte er mit August Ferdinand Möbius über eine mögliche Wechselbeziehung zwischen dem physischen und dem metaphysischen Universum diskutiert. Möbius, in seinem Grab auf einem Leipziger Friedhof, hatte darauf bestanden, dass die beiden Universen vollständig unabhängig voneinander existierten und keine Wechselbeziehungen möglich seien. Sie rieben sich möglicherweise gelegentlich aneinander wie Erdschollen und riefen damit auch Reaktionen auf beiden Seiten hervor – wie ›Geistererscheinungen‹ oder ›psychische Erfahrungen‹ auf der stofflichen Ebene –, aber es könne keine Überschneidungen geben, und sie könnten ihre Schwingungen niemals einander angleichen.
Also konnte es auch nicht sein, dass man von einem zum anderen sprang und wieder zurück …
Doch Harry hatte genau das getan, war die Abweichung von der Norm gewesen, das Haar in Möbius’ Suppe, der Querschläger. Oder vielleicht die sprichwörtliche Ausnahme, die eine Regel bestätigt?
All das war jedoch zu jener Zeit gewesen, als er noch einen Körper, eine äußere Form besaß. Und jetzt? Vielleicht wollte sich die Regel nun selbst bestätigen und die Abweichung ausbügeln? Harry gehörte hierher. Er existierte nicht mehr physisch, sondern nur noch metaphysisch und sollte deshalb hier verbleiben! Für alle Zeiten auf dem unvorstellbaren und wissenschaftlich unmöglichen Strom von Kräften im abstrakten Möbius-Kontinuum schwimmen! Vielleicht wurde er nun eins mit diesem Universum?
Eine Wort-Assoziation kam ihm in den Sinn: Energiefluss – Energiefelder – Feldlinien – Lebenslinien. Die leuchtend blauen Lebenslinien, die sich jenseits der Tore bis in die ferne Zukunft hinzogen! Und mit einem Mal erinnerte sich Harry an etwas und fragte sich gleichzeitig, wie ihm das hatte entgehen können. Die Möbius-Schleife konnte ihn gar nicht festhalten, jedenfalls jetzt noch nicht, denn er hatte ja eine Zukunft vor sich! Hatte er seine Lebenslinie nicht selbst beobachtet?
Er konnte sie jederzeit wieder verfolgen, indem er einfach ein Tor in die Zukunft suchte. Vielleicht war das aber diesmal doch nicht so einfach! Was würde geschehen, wenn ihn das Möbius-Kontinuum an sich zog, während er sich gerade durch die Zeiten bewegte? Das war ein unerträglicher Gedanke: unendlich lang durch die Weiten der Zukunft zu fliegen! Aber es war ohnehin nicht notwendig, dieses Risiko einzugehen, denn er erinnerte sich nun klar genug daran: Die rote Lebenslinie trieb näher heran; jeden Moment musste sie seine und die seines Kindes berühren. Das war bestimmt die Yulian Bodescus gewesen!
Dann bog die Lebenslinie Harry juniors mit einem Mal scharf zur Seite ab. Das musste seine Flucht vor dem Vampir gewesen sein, der Augenblick, in dem er zum ersten Mal selbstständig das Möbius-Kontinuum betrat. Danach war es zu diesem unmöglichen Zusammenstoß gekommen:
Eine andere blaue Lebenslinie, die bereits trübe erschien und sich aufzulösen begann, prallte aus dem Nichts heraus auf seine. Wie voneinander angezogen bogen sie sich aufeinander zu und vereinigten sich in einer blendenden Explosion, um danach als eine einzige Linie weiterzuverlaufen. Ganz kurz spürte Harry die Gegenwart oder eher das schwache Echo der Gegenwart – eines anderen menschlichen Geistes in seinem eigenen. Dann war es verschwunden, und Harry war wieder allein in seinem Verstand.
Dieses Erlebnis stand nun wieder deutlich vor seinem geistigen Auge. Ja, und er hatte dieses ersterbende Echo einer anderen Persönlichkeit erkannt!
Nun wusste er mit absoluter Sicherheit, wohin er sich begeben musste, wen er zu suchen hatte. Und mit etwas gedämpftem Eifer machte er sich auf den Weg nach London ins INTESP-Hauptquartier.
Im obersten Stockwerk, dem INTESP-Hauptquartier mit seinen Büros, Labors, Privatzimmern und
Weitere Kostenlose Bücher